Josef Winkler - Natura morta (Buchtipp/Rezension/lesen)
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AUF DER VERKAUFSVITRINE eines aufgeräumten, bereits verdunkelten Fleischerladens lagen noch zwei große Rinderherzen, die der Fleischerjunge, bevor die bereits um die zusammengeräumten Marktstände herumschleichenden Katzen aufmerksam wurden, in blaues Fettpapier einwickelte und neben seinen Motorradsturzhelm legte, auf dem ein blauer, geflügelter Totenkopf aufgeklebt war. Aus einem Abfallhaufen von Gedärmen, Hahnenfüßen und Hahnenköpfen klaubte ein Mann weggeworfene Hühnerherzen in eine Plastikbeutel hinein, schön aufgereiht, wie Bonbons, und drehte sie um - den breiten Teil des Herzens nach oben, den schmaleren nach unten -, wenn er ein Hühnerherz versehentlich verkehrt in die Schachtel gelegt hatte. Die Hühnerherzen, die mit Sägespänen beklebt waren, bespuckte er und entfernte die Späne mit einem Taschentuch. Ein bosnischer Kriegsflüchtling kippte aus einem schwarzen Plastikeimer die Fleischabfälle geschlachteter Hühner in seinen Plastiksack, schlug ein Kreuzzeichen und küßte seine Fingerspitzen. S. 23-24


Lesezitat nach Josef Winkler - Natura morta


  Alfred-Döblin-Preis 2001  

Natura morta
Josef Winkler - Natura morta

er Österreicher Josef Winkler gehört zu den Autoren, die mit der Sprache malen und ganze Bilder damit erschaffen. Seine Novelle "Natura morta" ähnelt einem opulenten, mehrteiligen barocken Tableau, das einen Markt in Rom als Motiv zeigt.

Das erste Gemälde ist ein Wochenmarkt voller Abfallhaufen von Gedärmen, Hahnenfüßen, aufgespaltenen Schafsköpfen, die sich mit an den Ständen aufgestapelten Orangen vermischen. Dazwischen der sechzehnjährige Piccoletto, der Junge mit "Wimpern so lang, dass sie fast die Wangen berühren." Das zweite Bild nimmt eine Szene vor dem Vatikan auf. Piccoletto lungert dort ziellos herum, beobachtet ein junges Mädchen, eine spannungsgeladene, lasziv sexuelle Atmosphäre.

Im dritten Bild ein Regenschauer. Die Szenerie verschwimmt. Piccoletto, unterwegs Pizza einzukaufen, stirbt bei einem Unfall. Sein Vater trägt den toten Jungen quer über den ganzen Markt. Ein sehr ergreifender Auftritt, in dem sich das quirlige Leben des Marktes mit dem Tod vermischt.

Josef Winkler schreibt in einer ungewöhnlich dichten Sprache, die keine Längen zulässt. Die Kulisse des Marktes kommentiert oder wertet er nicht, er teilt sie dem Leser mit, aufgenommen mit einem anonymen Kameraauge. Eine Novelle über eines der großen Themen der Literatur: Die Vergänglichkeit des Lebens.
© manuela haselberger





Josef Winkler - Natura morta
© 2001, Frankfurt, Suhrkamp Verlag, 102 S. / 16.36 €



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Leseprobe ...

MIT WEISSEN PFIRSICHEN und mit einem Strauß roten Ginsters lief ein alter Mann einer gehbehinderten, auf einen Ubahneingang der Stazione Termini zuhumpelnden Frau nach, die in einem durchsichtigen Plastiksack zwischen frischem Gemüse die Cronaca vera stecken hatte, überreichte ihr die Blumen und rief der überrascht sich umdrehenden, den Ginster in Empfang nehmenden Frau "Auguri e tante belle cose!" zu, die sich für die Aufmerksamkeit bedankte, ehe sie vorsichtig über die Treppe der Ubahn hinunterschlurfte mit ihrem Pfirsichsäckchen, dem roten Ginsterstrauß, den Liebesleid- und Unglücksgeschichten, den Mord- und Selbstmordgeschichten in der Cronaca vera. Vor der rollenden Ubahntreppe kniete ein verschmutzter, einen Pappdeckel mit der Aufschrift Ho fame! Non ho una casa! haltender Bettler. Zu seinen nackten Füßen lag ein großes Heiligenbild von Guido Reni, auf dem der Erzengel Michael mit einem Schwert auf den am Rande der Hölle liegenden Dämon niedersticht, der die Gesichtszüge des Kardinals Pamphilj, des späteren Papstes Innocenzo X, trug. Neben dem Heiligenbild, auf dem ein paar zerknitterte Lirescheine lagen, flackerte eine Kerze in einem roten Plastikbehälter. Einer der drei über die rollende Ubahntreppe kollernden Granatäpfel sprang auseinander, rote Granatäpfelkerne rieselten über die Betonstufen hinunter. Unter den gruppenweise vor einem Blumenladen in der Ubahnhalle umherstehenden, buntbekleideten Somalierinnen, die als Dienstboten in römischen Haushalten arbeiten, bei Bekannten wohnen und noch keine Adresse haben, verteilte ein Mann ein dickes Bündel Briefe mit arabischen Aufschriften. Ein schwarzhaariger, ungefähr sechzehnjähriger Junge, der lange, fast seine mit Sommersprossen übersäten Wangen berührende Wimpern hatte und ein silbernes Kruzifix um seinen Hals trug, las laut die Kritzelei von der Wand der Ubahnstation Luisa ama Remo. Ti voglio bene da morire! In der Ubahn gab zur Begrüßung ein Mann einer Frau einen Kuß und patschte mit seiner flachen Hand mehrere Male auf ihre Kniescheiben, während sie mit der Faust ihrer rechten Hand auf seine Oberschenkel klopfte. Unmittelbar danach, bevor er bei der nächsten Station die Ubahn verließ, küßte er ihre geballte Faust und verabschiedete sich mit "Auguri!". Neben seiner verknöcherten, eine glitzernde Sonnenbrille tragenden und einen schwarzen Fächer schwenkenden Großmutter saß mit hängendem Kopf ein schwachsinniger, einen leichten Bartflaum auf der Oberlippe tragender Knabe. Sofort tastete er seinen Hosenschlitz ab und schaute, ob der Reißverschluß zugezogen war, als er bemerkte, daß ein Mann auf seine Hüften schaute. An seinem rechten Handgelenk trug er ein Armband in den Farben Roms, auf dem Roma eingestickt war. Mit seinem rechten Zeigefinger befühlte er einen hohlen Stiftzahn und beschmierte seine Lippen mit rosarotem Labello. Über dem Kopf des Jungen, auf einem Feuerlöscher, stand mit schwarzem Filzstift LŽAids nel mondo, il Lazio in Italia! Der schwarzhaarige, sechzehnjährige Junge, der lange, fast seine Wangen berührende Wimpern hatte, ein silbernes Kruzifix um seinen Hals trug und in Begleitung seiner jüngeren Schwester in der Ubahn saß, mit der er zum Markt auf der Piazza Vittorio Emanuele unterwegs war, drückte unter einem Werbeplakat für Pferdefleisch eine weiße Hundewelpe an seine Brust. Ho scelto la carne equina, perché i bambini ne vanno matti stand auf der linken Plakathälfte über der Abbildung einer besorgt auf ihre Kinder schauenden Mutter. Auf der rechten Plakathälfte war ein fingerzeigender Arzt im weißen Mantel zu sehen, über dem geschrieben stand Consiglio la carne equina, percé contiene ferro in misura quasi doppio delle altre carni. Jedesmal wenn eine junge, solargebräunte, mit vergoldetem Schmuck überladene Frau ein neues Bild aus einem Kuvert zog, auf dem einjährige Zwillinge abgebildet waren, schluchzte sie leise und zog an ihrer Nase. Bevor sie an der Piazza Vittorio aus der Ubahn stieg, streckte sie ihre zehn Finger aus und warf einen kontrollierenden Blick auf ihre Ringe. Eine kleine, feine, rote Lederaktentasche festhaltend, stieg ein Mann mit einem halbwüchsigen marokkanischen Jungen aus der Ubahn und ging unauffällig, ein paar Schritte hinter dem Knaben, die Rolltreppe zur Piazza Vittorio Emanuele hinauf.S. 11

Lesezitate nach Josef Winkler - Natura morta










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Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de