MIT WEISSEN PFIRSICHEN und mit einem Strauß roten Ginsters lief ein alter Mann einer gehbehinderten, auf einen Ubahneingang
der Stazione Termini zuhumpelnden Frau nach, die in einem durchsichtigen Plastiksack zwischen frischem Gemüse die Cronaca
vera stecken hatte, überreichte ihr die Blumen und rief der überrascht sich umdrehenden, den Ginster in Empfang nehmenden
Frau "Auguri e tante belle cose!" zu, die sich für die Aufmerksamkeit bedankte, ehe sie vorsichtig über die Treppe der Ubahn
hinunterschlurfte mit ihrem Pfirsichsäckchen, dem roten Ginsterstrauß, den Liebesleid- und Unglücksgeschichten, den Mord- und
Selbstmordgeschichten in der Cronaca vera. Vor der rollenden Ubahntreppe kniete ein verschmutzter, einen Pappdeckel mit der
Aufschrift Ho fame! Non ho una casa! haltender Bettler. Zu seinen nackten Füßen lag ein großes Heiligenbild von Guido
Reni, auf dem der Erzengel Michael mit einem Schwert auf den am Rande der Hölle liegenden Dämon niedersticht, der die
Gesichtszüge des Kardinals Pamphilj, des späteren Papstes Innocenzo X, trug. Neben dem Heiligenbild, auf dem ein paar
zerknitterte Lirescheine lagen, flackerte eine Kerze in einem roten Plastikbehälter. Einer der drei über die rollende Ubahntreppe
kollernden Granatäpfel sprang auseinander, rote Granatäpfelkerne rieselten über die Betonstufen hinunter.
Unter den gruppenweise vor einem Blumenladen in der Ubahnhalle umherstehenden, buntbekleideten Somalierinnen, die als
Dienstboten in römischen Haushalten arbeiten, bei Bekannten wohnen und noch keine Adresse haben, verteilte ein Mann ein
dickes Bündel Briefe mit arabischen Aufschriften. Ein schwarzhaariger, ungefähr sechzehnjähriger Junge, der lange, fast seine
mit Sommersprossen übersäten Wangen berührende Wimpern hatte und ein silbernes Kruzifix um seinen Hals trug, las laut die
Kritzelei von der Wand der Ubahnstation Luisa ama Remo. Ti voglio bene da morire! In der Ubahn gab zur Begrüßung ein
Mann einer Frau einen Kuß und patschte mit seiner flachen Hand mehrere Male auf ihre Kniescheiben, während sie mit der Faust
ihrer rechten Hand auf seine Oberschenkel klopfte. Unmittelbar danach, bevor er bei der nächsten Station die Ubahn verließ,
küßte er ihre geballte Faust und verabschiedete sich mit "Auguri!". Neben seiner verknöcherten, eine glitzernde Sonnenbrille
tragenden und einen schwarzen Fächer schwenkenden Großmutter saß mit hängendem Kopf ein schwachsinniger, einen leichten
Bartflaum auf der Oberlippe tragender Knabe. Sofort tastete er seinen Hosenschlitz ab und schaute, ob der Reißverschluß
zugezogen war, als er bemerkte, daß ein Mann auf seine Hüften schaute. An seinem rechten Handgelenk trug er ein Armband in
den Farben Roms, auf dem Roma eingestickt war. Mit seinem rechten Zeigefinger befühlte er einen hohlen Stiftzahn und
beschmierte seine Lippen mit rosarotem Labello. Über dem Kopf des Jungen, auf einem Feuerlöscher, stand mit schwarzem
Filzstift LŽAids nel mondo, il Lazio in Italia! Der schwarzhaarige, sechzehnjährige Junge, der lange, fast seine Wangen
berührende Wimpern hatte, ein silbernes Kruzifix um seinen Hals trug und in Begleitung seiner jüngeren Schwester in der Ubahn
saß, mit der er zum Markt auf der Piazza Vittorio Emanuele unterwegs war, drückte unter einem Werbeplakat für Pferdefleisch eine
weiße Hundewelpe an seine Brust. Ho scelto la carne equina, perché i bambini ne vanno matti stand auf der linken Plakathälfte
über der Abbildung einer besorgt auf ihre Kinder schauenden Mutter. Auf der rechten Plakathälfte war ein fingerzeigender Arzt
im weißen Mantel zu sehen, über dem geschrieben stand Consiglio la carne equina, percé contiene ferro in misura quasi doppio
delle altre carni. Jedesmal wenn eine junge, solargebräunte, mit vergoldetem Schmuck überladene Frau ein neues Bild aus
einem Kuvert zog, auf dem einjährige Zwillinge abgebildet waren, schluchzte sie leise und zog an ihrer Nase. Bevor sie an der
Piazza Vittorio aus der Ubahn stieg, streckte sie ihre zehn Finger aus und warf einen kontrollierenden Blick auf ihre Ringe. Eine
kleine, feine, rote Lederaktentasche festhaltend, stieg ein Mann mit einem halbwüchsigen marokkanischen Jungen aus der
Ubahn und ging unauffällig, ein paar Schritte hinter dem Knaben, die Rolltreppe zur Piazza Vittorio Emanuele hinauf.S. 11
Lesezitate nach Josef Winkler - Natura morta