Der hatte keine Ahnung! Nichts lag Alex ferner; er wollte mit Hendricks nichts mehr zu tun haben. Hätte der sich nicht selbst der Folter bezichtigt, er, Alex, hätte die Sache bestimmt nicht an die große Glocke gehängt. Ihm lag weder etwas an einer Bloßstellung Hendricks'. Noch an Erniedrigung. Noch an Absolution. Ihm lag nichts an Wiedergutmachung und ganz sicher nicht daran, dasitzen und Hendricks sagen hören zu müssen, es tue ihm leid. Was geschehen war, hatte Alex auf seine Weise verarbeitet. Er wollte bloß noch in Ruhe gelassen werden.
Und jetzt blieb ihm keine Wahl. Hendricks hatte für Alex' Folterung Amnestie beantragt, und Alex mußte sich diesem Ansinnen widersetzen. Nicht um seinetwillen, nein, um James' willen. Das Ganze glich einem sternförmig ausgelegten Netz von Stolperdrähten: Pieter Muller würde nur stürzen, wenn Hendricks ihn mitriß, Hendricks würde Muller nur mit hineinziehen, wenn Alex ihm Druck machte, und Alex war nur deshalb bereit, Hendricks entgegenzutreten, weil James es wünschte.
Vor ihm beschrieb die Straße eine Linkskurve. Dahinter lagen, wie er sehr genau wußte, die kleine Brücke und die ersten Häuser von Smitsrivier. Er nahm erneut den Fuß vom Gaspedal, und der Wagen führ noch langsamer. S. 36
"Sie haben es auch in Ihrem Antrag unterlassen, eine Farm zu erwähnen", warf der Richter ein.
Mann, der stellte sich an, dieses zimperliche Weib von einem Richter, hängte sich an solchen Kleinigkeiten auf Konnte der sich nicht denken, daß es viele Details gab, die Dirk zu erwähnen "unterlassen" hatte? - etwa daß Dirk, ganz allein auf sich gestellt, einmal hilflos zusehen mußte, wie einem durchreisenden Fremden, den eine rasende Menge zum Verräter erklärt hatte, in der Township eine Halskrause umgelegt wurde.
"Mr. Hendricks?"
"Tut mir leid, Herr Vorsitzender", sagte Dirk ruhig, ganz der kooperative Gefangene.
Der Richter bedachte das Eingeständnis mit einem knappen Kopfnicken, und Dirk saß da, gestrandet auf dieser Bühne, von allen Menschen abgeschnitten, denen er je etwas bedeutet haben mochte, und dachte an die vielen, vielen Vorkommnisse wie die Halslkrause, die ebenso wahr und von ebensolcher Bedeutung für diesen Fall waren, die er in seinen Antrag deshalb ausgespart hatte, weil er wußte, man würde ihm schlicht nicht glauben. Darauf wies Dirk den Richter nicht hin. Denn eines stand fest: Die neue Geschichte ihres Landes paßte nicht mehr auf die alten Wahrheiten. Niemand würde seine Darstellung des Halskrausenvorfalls hören wollen - wie es war, zwar notgedrungen die Augen zu verschließen (denn was hätte er schon tun können?), nicht aber die Ohren zusperren zu können und deshalb mitanhören zu müssen, wie der Reifen angesteckt wurde und das arme Schwein bei lebendigem Leibe verbrannte, seine Schreie noch lange hören zu müssen, nachdem sich der Mob verlaufen hatte, Schreie, die ihn bis nach Hause verfolgt hatten, bis in den Schlaf. Niemand würde sich für die Nacht interessieren, in der er davon aufgewacht war, daß er seine Frau würgte, weil er sich einbildete, er hätte einen der johlenden schwarzen Gaffer vor sich, dem vor Staunen angesichts verklebter schwarzer Haut und verschmolzenem schwarzen Gummi der Mund offenstand, oder daß er den Gestank nicht mehr aus der Nase bekam, so sehr er auch schrubbte, bis aufs Blut...
"Sie waren sonst der kleineren Station in der Main Street zugeteilt?" fragte der Richter.
Dirk blinzelte. "Das ist richtig, Herr Vorsitzender."
"Es gibt außerdem den größeren Polizeikomplex am Ortsrand?"
"Das ist richtig."
"Wozu mußten Sie dann Verdächtige auf eine Farm bringen?"
Wozu hatten sie die Farm gebraucht? Dirk brachte nur eine hilflose Geste zustande. Was sollte er dazu sagen? Daß alle damals unternommenen Schritte als Ausdruck einer eskalierenden Taktik von Schlag und Gegenschlag angesehen, alle Entscheidungen, wie fragwürdig auch immer (das wollte Dirk gar nicht bestreiten), unter den Bedingungen des Ausnahmezustands getroffen worden waren? Wollte er das zu erklären versuchen, die Wahrheit von damals, in ihrer ganzen Komplexität, dann würden die Anwesenden doch nur wieder glauben, er lüge, wie vorhin, als Mpondo ihn bei der Geschichte von den nassen Säcken, die sie daheim im Bad bereitgehalten hatten, scheinbar der Lüge überführt hatte.
Dirk hatte nicht gelogen. Halskrause, Säcke, Schmerz - das alles war wahr.
Sie hielten sich alle bloß für was Besseres. Sie blickten zurück und verurteilten ihn. Hinterher war man immer klüger, da warfen sich selbst Soziologen und Journalisten zu Richtern auf. Und doch würden diese selbsternannten Experten - so clever ihre Erklärungsansätze auch waren - nie begreifen können, was es geheißen hatte, vom Wirbelsturm der Ereignisse fortgerissen zu werden, von der Geschichte selbst, die man schrieb, während andere sie bereits umschrieben, und unter einem Höllendruck Entscheidungen fällen zu müssen wie: wohin mit den vielen Festgenommenen und wie ihnen Geständnisse abzwingen, ehe noch mehr Opfer zu beklagen wären, und wie den eigenen Kindern erklären, weshalb man von der Arbeit heimkam und ihnen nicht in die Augen sehen konnte. S. 193-194
Lesezitate nach Gillian Slovo - Roter Staub