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Anita Shreve

Das Gewicht des Wassers

© 1997



Anita Shreve

Die Frau des Piloten

© 1998


Bunte Glasscherben am Strand
Anita Shreve - Der einzige Kuss

nita Shreve, die mit ihrem Roman "Das Gewicht des Wassers" auf einen Schlag bekannt wurde, zieht es in ihrem neuen Buch "Der einzige Kuss" in die Zeit der zwanziger und dreißiger Jahre in Amerika. Der Börsenkrach steht kurz bevor, die Atmosphäre ist aufgeheizt.

An einem warmen Junitag 1929 heiraten Honora, gerade zwanzig Jahre alt und Sexton, der sein Geld als Handelsvertreter für Schreibmaschinen verdient. Die beiden ziehen in ein seit langem unbewohntes Haus an der Ostküste. Ihr Glück wird erheblich getrübt, als Sexton nach dem Zusammenbruch der Wall Street seinen Job verliert und mit der neuen Situation überhaupt nicht fertig wird. Als Arbeiter in einer Textilfabrik wollte er nie sein Geld verdienen. "Eben noch hat man gute Arbeit, und das Leben ist voller Möglichkeiten. Und am nächsten Tag sind Arbeit, Auto und Möglichkeiten weg, und man kann seiner Frau nicht mehr in die Augen sehen. Es gibt keinen Gehaltsscheck, keine Gelegenheit, Geld für Essen und Kleidung zu verdienen. Das Leben besteht nur noch aus dem Bemühen, weiterzumachen."

Honora versucht so gut es geht die Not zu lindern, doch Sexton vergräbt sich. "Sie erfährt viel früher, als es unter normalen Umständen vielleicht der Fall gewesen wäre, was es heißt, jemanden zu lieben, der sich verändert - und nicht unbedingt zum Besseren."

In der Fabrik lernt Sexton den jungen McDermott kennen. Er gehört zur Gewerkschaft und nachdem die Arbeitsbedingungen immer schlechter werden und weniger Lohn bezahlt werden soll, kommt es zum Streik. Die Vorbereitungen dazu, werden in Honoras und Sextons Haus draußen am Meer getroffen. In dieser hektischen Zeit entwickelt sich die Romanze zwischen Honora und McDermott, wobei sich die beiden ihre Zuneigung nicht eingestehen wollen, bis die Situation eskaliert und Schüsse vor der Fabrik fallen.....

Sehr behutsam erzählt Anita Shreve aus den wechselnden Perspektiven ihrer Protagonisten. Gleichzeitig gelingt ihr auf diese Weise ein vortreffliches gesellschaftliches Porträt der damaligen Zeit. Sexton, dessen Karriere knickt, McDermott auf der Seite der Gewerkschaft und Arbeiter, oder auch Honoras Freundin Vivian, die noch nie für ihr Auskommen arbeiten musste und auch jetzt wieder Glück hat und kein Geld verliert.

Und am Schönsten: mittendrin die große Liebe im falschen Leben. - Ein Unterhaltungsroman, der so vielfältig schillert, wie die bunten Glasscherben, die Honora bei ihren Strandspaziergängen sammelt.
manuela haselberger



  Anita Shreve -
  Der einzige Kuss
   Originaltitel: »Sea Glas«, © 2002
   Übersetzt von Mechtild Sandberg
   © 2003, München, Piper Verlag, 347 S., 19.90 €

      gebundenes Buch



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Honora stellt den Pappkoffer auf dem Granitblock ab. Die Tür ist gesprenkelt mit blätterndem Lack – grün oder schwarz, es ist schwer zu sagen. Oberhalb des Klopfers sind Glasscheiben, einige zerbrochen, andere altersblind. Darüber ist ein Vordach aus verwitterten Schindeln und darüber wiederum ein milchig-wäßriger Himmel. Honora hält das Revers ihres Kostüms zusammen und drückt im Wind die Hand auf ihren Hut. Sie betrachtet den Buchstaben B, der in den Klopfer eingeritzt ist, und denkt: Dies ist der Ort, an dem alles beginnt.
Es ist das Jahr 1929. Ein Junitag. Ein Hochzeitstag. Honora ist gerade zwanzig geworden, und Sexton ist vierundzwanzig. Die Schindeln des Hauses sind von Weiß zu Fleisch geschmirgelt. Die Fliegengitter an den Fenstern hängen zerrissen und schlaff. Im oberen Stockwerk stehen Dachgauben wie Wächter, die aufs Meer hinausschauen, und vom Haus her marschiert dornenscharfes Dickicht über den Rasen. Die Türschwelle ist morsch, Honora fürchtet, sie könnte unter ihrem Gewicht brechen. Sie hätte Lust, den zerschrammten Türknauf zu drehen, obwohl Sexton sie gebeten hat, es nicht zu tun, sondern auf ihn zu warten. Sie macht einen Schritt in den Vorgarten hinunter; ihre Pumps sinken in den weichen Boden ein und setzen einen Duft frei, der Jahre wegfegt. Da kommt Sexton um die Ecke, die nach oben gekehrten Handflächen voller Erde. Er ist ein Mann der Überraschung, ein Fremder, den sie kaum kennt. Ein guter Mann, denkt sie. Hofft sie. Sein Mantel bauscht sich in der Brise und teilt sich über Hosenträgern, die eng am Hemd anliegen. Seine Hose, an einer Seitennaht geflickt, sitzt locker, und die Hosenbeine sind zu tief auf seine Schuhe gerutscht. Sein Haar, anläßlich der Hochzeit stark geölt, hebt sich im Wind. Honora steigt wieder auf den Granitblock und wartet auf ihren Mann. Sie legt ihre Hände in der Taille übereinander, so daß die Handtasche, die sie von ihrer Mutter ausgeliehen hat, nicht von der Hüfte rutschen kann. Sexton kommt mit Gaben: sandiges Erdreich und ein Schlüssel. »Die Erde ist der feste Boden, auf dem unsere Ehe stehen soll«, sagt er. »Der Schlüssel soll uns Geheimnisse aufschließen.« Er hält inne. »Die Ohrringe sind für dich.« Honora neigt den Kopf zu dem Polster aus Erde hinunter. Zwei Ohrgehänge mit Markasitkristallen und Perlen liegen fast begraben in Sextons Händen. Sie streift mit den Fingern darüber.
»Sie haben meiner Mutter gehört«, sagt Sexton. »Die Erde und der Schlüssel sind alter Brauch, hat dein Onkel Harold mir erzählt.«
»Danke«, sagt sie. »Sie sind sehr schön.«
Sie nimmt den Schlüssel und denkt: Der Schritt über die Schwelle. Der Beginn unseres gemeinsamen Lebens.

Der Mann kam mit einem Bündel Zehner und Fünfer in die Bank. Er wollte sie in größere Scheine wechseln, um ein Auto zu kaufen. Er trug einen langen braunen Mantel, weil es draußen regnete, und nahm seinen Hut ab, bevor er sein Anliegen äußerte. Der weiße Hemdkragen umschloß eng seinen Hals, und er sprach mit Honora, während sie ihm das Geld vorzählte. Einen zweitürigen Buick, erklärte er. Baujahr 1926, nur drei Jahre alt. Er sei türkisfarben wie die Eier von Rotkehlchen, sagte er, und habe einen roten Streifen gleich unter dem Türgriff. Ein wahres Prachtstück, mit Holzspeichenrädern und marineblauer Mohairpolsterung. Er bekomme ihn für ein Butterbrot, von einer Witwe, die nie gelernt habe, das Auto ihres nunmehr verstorbenen Mannes zu lenken. Er schien aufgeregt, wie das ihrer Erfahrung nach Männer häufig waren, wenn sie von Autos sprachen, die ihnen noch nicht gehörten, mit denen sie noch keine Panne erlebt hatten. Honora klammerte die Scheine zusammen und schob sie unter dem Gitter hindurch. Seine Augen waren grau, tief liegend unter dichten Brauen. Er hatte ein kleines Oberlippenbärtchen, eine Nuance dunkler als das vom Hut etwas flachgedrückte Haar. Er strich sich eine Strähne aus der Stirn. Sie mußte das Geld in der Mulde unter dem Gitter hin und her bewegen, um ihn daran zu erinnern. Er nahm die Scheine, faltete sie zusammen und schob sie in seine Hosentasche.
»Wie heißen Sie?« fragte er.
»Honora«, sagte sie.
»Wie schreibt man das?«
Sie buchstabierte ihren Namen. »Das ›H‹ ist stumm«, erklärte sie.
»Onora«, sagte er zur Probe. »Arbeiten Sie schon lange hier?«
Das Gitter trennte sie. Es schien ihr eine merkwürdige Art des Kennenlernens, aber besser als im McNiven’s, wohin sie manchmal mit Ruth Shaw ging. Dort pflegten sich die Männer einfach in die Nische zu schieben und einem das Bein an den Oberschenkel zu pressen, noch ehe sie ihren Namen genannt hatten. »Ich bin Sexton Beecher«, sagte das vom Gitter unterteilte hübsche Gesicht. Am nächsten Schalterfenster horchte Mrs. Yates mit gespitzten Ohren. Honora nickte. Ein Mann stand jetzt hinter ihm. Harry Knox in seinem Overall, das Sparbuch in der Hand. Schon ungeduldig werdend. Sexton setzte seinen Hut wieder auf. »Ich verkaufe Schreibmaschinen«, sagte er in Beantwortung einer Frage, die gar nicht gestellt worden war. »Das Gericht gehört zu meinen Kunden. Für meine Arbeit brauche ich ein Auto. Bisher habe ich mir immer den Ford von meinem Chef geliehen, aber der Motor hat den Geist aufgegeben. In der Werkstatt hieß es, die Reparatur würde mehr kosten als ein neuer. Kaufen Sie bloß nie einen Ford.«
Es war unwahrscheinlich, daß sie je einen Ford kaufen würde.
Mindestens die Hälfte aller Erwachsenen hier im Ort arbeitete beim Gericht. Taft war Kreishauptstadt, und alle Gerichtsverfahren fanden hier statt. »Viel Freude mit dem Auto«, sagte Honora.
Der Mann schien sich nicht abwenden zu wollen. Aber nun trat Harry Knox ans Gitter, und das war’s. Durch das Fenster auf der Seite des Gebäudes erhaschte Honora noch einen Blick auf Sexton Beecher, der im Davongehen seinen Mantel zuknöpfte.


Lesezitat nach Anita Shreve - Der einzige Kuss



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by Manuela Haselberger
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