Robert Morgan - Gap Creek (Buchtipp/Rezension/lesen)
... reinlesen


<<   weitere Bücher   >>


... reinlesen

Eins

Das mit Masenier weiß ich, weil ich dabei war. Ich hab ihn sterben sehn. Wir haben niemand die Wahrheit gesagt, weil die Art, wie er starb, uns so unanständig vorkam. Es war zu fürchterlich, um es andern Leuten zu schildern. Aber ich war dabei.

Masenier war mein kleiner Bruder, mein einziger Bruder, und wir Mädchen hatten ihn verwöhnt. Wenn Masenier mitten in der Nacht aufwachte und warmes Maisbrot wollte, stand eine von uns auf und wärmte es ihm. Wenn Masenier was Hübsches im Kaufhaus in der Stadt wollte, trugen wir ein Huhn in eins der großen Häuser in Flat Rock und verkauften es, um ihm dieses Hübsche zu kaufen. Masenier bekam jeden Morgen ein Ei, wir andern bekamen nur Hafergrütze. Wenn er Brot mit Sirup wollte, haben Mama oder eine von uns es ihm gebacken.

Für mich war Masenier das Reizendste auf der Welt. Er hatte blonde Locken, die ihm nach allen Seiten vom Kopf abstanden, und seine Augen waren so blau wie die Berge aus großer Ferne. Er sang gern, und manchmal zupfte Papa abends am Kamin auf seinem Banjo und wir Mädchen sangen >Im Schatten der Pinien< oder >Die zwei Schwestern< und Masenier klatschte dazu in die Hände und sang mit. Sehr oft hatten wir solche Musik nicht, nur bei besondern Gelegenheiten holte Papa das Banjo herunter.

Das Jahr, von dem ich spreche, war das Jahr nach dem Kalten Freitag, dem Tag, an dem die Sonne überhaupt nicht herauskam und es nie warm wurde. Es war der kälteste Tag seit Menschengedenken. Es war wie das Ende der Welt, als die Hühner nicht von der Schlafstange wollten, und alles war so erstarrt, daß wir diesen Tag nie vergessen werden. Damals bekam Papa den Husten, und von dem hat er sich eigentlich nie mehr erholt. In dem Jahr nach dem Kalten Freitag war es, daß Masenier anfing zu kränkeln.

Masenier war immer so ein gesunder Junge gewesen, sogar ein bißchen pummelig von all den Sirupbroten, und seine Backen waren rosa wie Heckenrosen. Er hatte am Haus einen weißen Sandhaufen, den Papa mit dem Wagen vom Bach geholt hatte. Masenier machte Wege und Burgen und allerlei Berge und Täler in dem Sand. Er baute sich sogar eine Kirche aus Reisig und stellte sie auf einen Sandhügel und steckte Steinchen ringsherum, damit es aussah wie ein Friedhof. Wir hätten wissen müssen, daß ein Bub, der so was tut, irgendwie gezeichnet ist. S. 7-8


Lesezitat nach Robert Morgan - Gap Creek


Gap Creek
Robert Morgan - Gap Creek

n den USA war der Roman "Gap Creek" des mehrfach ausgezeichneten Autors Robert Morgan ein sensationeller Erfolg. Wie hat er ein Millionenpublikum an Lesern bezaubert?

Der Roman spielt in den Jahren 1895 bis 1900 in den Bergen North Carolinas. Julie, siebzehn Jahre, die mit ihren Schwestern und dem kränkelnden Bruder Masenier heranwächst, hat schwer zu arbeiten. Schon bald stirbt der kleine Masenier auf schreckliche Weise und auch der Vater hustet nächtelang. Von den Mädchen wird verlangt, dass sie die ganze anfallende Arbeit mit erledigen: die Felder bestellen, Wasser am Brunnen holen, die Hühner und das Schwein schlachten, Holz hacken. Vor keiner schweren Arbeit schreckt Julie zurück.

"Wenn ich scheuerte, scheuerte ich einen Teil der Welt und ich scheuerte auch meinen Geist, um ihn sauberzukriegen. Es war die Arbeit, die mich klar denken ließ, und es war die Arbeit, die mich demütig machte. Ich habe nie schnell reden können, nie zu den Leuten sagen können, was ich meinte oder was sie mir bedeuteten. Meine Gefühle lösten mir nie die Zunge. Mit meinen Händen, mit meinem Rücken und meinen Schultern konnte ich sagen, wie mir war."

Als der junge Hank sie fragt, ob sie seine Frau werden möchte, überlegt sie nicht lange und schon nach einem Monat sind die beiden verheiratet und ziehen nach Gap Creek. Doch die Enttäuschung folgt auf den Fuß: "Gap Creek war kein Ort, in den man zog, außer man hatte Verwandte oder eine Arbeitsplatz dort."

So haben die beiden schwere Prüfungen vor sich, angefangen bei einem ewig nörgelnden Vermieter bis zu einer katastrophalen Überschwemmung und einem vernichtenden Brand, die sie bestehen müssen. Und die harte Arbeit nimmt überhand. Das wenige Geld das Julie und Hank besitzen, wird ihnen von Betrügern abgeluchst. Als ihre Vorräte verderben, das Ende des Winters nicht in Sicht ist, Hank seinen Job verliert und Julie ein Kind erwartet, wird ihre Lage fast unerträglich.

An diese karge, ärmliche Umgebung hat Thomas Morgan seinen schlichten, scheinbar einfachen Stil angepasst und diese Sätze harmonieren mit der ganzen Erzählung und ergeben einen Roman, der von einer unglaublich starken Überlebenskraft erzählt, einem unbeugsamen Willen und einer Liebe, die ohne viele Worte, über alle erdenklichen Schicksalsschläge trägt. © manuela haselberger


Robert Morgan - Gap Creek
Originaltitel: Gap Creek, © 1999
Übersetzt von Isabella Nadolny
© 2001, München, dtv premium, 336 S., 28.01 DM / ca 14.32 €

dieses Buch bestellen


Fortsetzung des Lesezitats ...

Vier

Eine Woche, eh wir heirateten, mietete Hank ein Haus jenseits der Grenze nach South Carolina. Es lag ganz hinten in einem Tal namens Gap Creek - noch nie war ich so weit weg von daheim. Hank sagte, er wollte dort leben, weil es da hübsch war und weil es billig war und weil er Arbeit hatte in Lyman, wo eine Baumwollspinnerei gebaut wurde. Er hatte schon früher als Zimmermann und Maurergehilfe gearbeitet und bereits einen Job, bei dem er Ziegel machen helfen sollte. Später dachte ich, er ist nach South Carolina gezogen, um von seiner Ma wegzukommen, denn als ich sie kennengelernt hatte, verstand ich das.

Wir heirateten an einem Sonnabend, fast einen Monat nachdem wir uns das erste Mal begegnet waren, und blieben in der Nacht in Mamas Haus. Es war mir peinlich, die erste Nacht als Ehefrau bei mir daheim zu verbringen, aber Mama wußte Rat. Weil wir kein Gästezirnmer hatten, ließ sie Hank auf der Couch im Wohnzimmer schlafen, und ich blieb im Schlafzimmer mit Lou und Rosie und Carolyn, wie früher auch. Ich schlief fast gar nicht in dieser Nacht, und Lou kicherte und neckte mich.
"Meinst du nicht, daß sich Hank drüben auf der Couch einsam fühlt?" sagte sie.
"Pssst", machte ich und tat, als sei ich schläfrig.
Am nächsten Tag gingen wir zu Fuß hinunter nach Gap Creek.
Wie jede Ehefrau dachte ich, mein Mann ist klug und wird bald reich. Und als ich das Tal von Gap Creek sah, dachte ich, es ist einer der schönsten Orte der Welt. Das Haus war nicht so besonders, aber das enge Tal mit den steilen Bergen zu beiden Seiten sah aus wie ein Bild aus einer Zeitschrift. Die Talsohle war flach, die Wege schlängelten sich friedlich die steilen Berge hinauf. Unten war noch alles grün, auf den Hängen schon Herbst.

Das schlimmste an dem Haus war, daß Mr. Pendergast, der es uns vermietete, selber drin lebte. Er bewohnte das vordere Schlafzimmer, und unsere Miete bestand darin, daß ich ihm das Essen richtete und für ihn wusch. Er war ein barscher alter Witwer, und ich sah gleich, daß ich viel Geduld brauchen würde. Ich war eine junge Braut, und Hank hatte mich dort hinuntergebracht, um in dem kleinen Anwesen den Haushalt zu führen.

Mr. Pendergast war klein von Wuchs und hatte einen riesigen Schopf graue Haare. Auch in seinen Ohren wuchsen Haare. Wenn er einen ansah, schielte er. "Kümmert euch nicht um mich", sagte er an dem Abend, an dem wir eintrafen. Ich hatte all meine Kleider in einem Pappkarton und einem Kissenbezug und war den ganzen Weg vom Mount Olivet herunter gegangen. "Ich eß fast nichts und ich bin so leise, daß ihr gar nicht merkt, daß ich da bin." Er zeigte mir, wo die Küche lag und wo alle Töpfe und Pfannen waren. Seine Frau war ihm vor drei, vier Jahren weggestorben, und er hatte das Haus verkommen lassen wie die meisten Männer. Jeder Zoll Boden mußte gescheuert und geschrubbt werden. So was von Dreck, wie er sich rings um den Herd angehäuft hatte, kann man sich gar nicht vorstellen. Ich würde eine Woche brauchen, um das Haus soweit sauber zu kriegen, daß sich einem nicht der Magen umdrehte.

"Was möchten Sie zum Frühstück?" fragte ich.
"Mach mir nur bißchen Dörrbrot und Sauce", sagte Mr. Pendergast, "und vielleicht ein verlorenes Ei." Von verlorenen Eiern hatte ich gehört, aber noch nie eins gemacht. Ich würde Hank fragen müssen. "Speck kriegen wir erst, wenn wir das Schwein geschlachtet haben", sagte Mr. Pendergast. "Aber es ist ja sowieso bald Zeit zum Schlachten."

Als wir in der ersten Nacht ins Bett gingen, hatte ich fast Angst, mich in dem Mansardenzimmer zu bewegen, denn die Dielenbretter krachten und die Bettfedern krachten, und Mr. Pendergast, der direkt unter uns schlief würde auf jedes Geräusch horchen, das wir machten. Die Dielen ächzten und die Bettfedern stöhnten, als wir ins Bett stiegen. "Pssst", sagte ich zu Hank.
"Pendergast ist so taub wie ein Zaunpfahl", sagte Hank, ohne auch nur die Stimme zu senken.
"Selbst ein Zaunpfahl könnte dieses Bett knarren hören", sagte ich.

Als Hank die Lampe ausgeblasen hatte, lagen wir in dem höckrigen Bett in dem Zimmer, das nach altem Holz und Rauch roch. Hank drehte sich zu mir, und die Federn knallten auf den Bettrahmen. Ich kicherte, weil ich ein bißchen nervös war. Aber ich war weder ängstlich noch besorgt, wie so viele Bräute es sein sollen. Ich hatte mein Leben lang an diese erste Nacht in unserm Haus gedacht, und jetzt, wo sie da war, fürchtete ich nur, daß wir Mr. Pendergast wecken würden, sonst nichts.
*Pssst!" sagte ich wieder.
Als Hank die Lippen an mein Ohr legte, fühlte sich das so sonderbar an, daß ich schauderte. Und als er mit dem Finger meine Brustwarzen berührte, war mir, als bestünde ich überall aus Musikantenknochen. Als er mir mit der Hand über die Schulter in die Achselhöhle und auf den Bauch hinunterstrich, meinte ich, meine Haut müßte im Dunkeln Funken sprühen.

Etwas zog mir das Nachthemd über die Knie und die Oberschenkel herauf Ich kicherte, und das Bett knarrte. Dann fühlte ich etwas Heißes und Nasses in meinem Nabel und begriff, daß es Hanks Zunge war, die hier herumfuhr. Ich hoffte nur, daß keine Fusseln im Nabelloch waren.

Alles war sonderbar und so ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich wußte nicht, wie mir geschah. Die Welt war irgendwie umgekippt, und die Zeit stand still oder war verlangsamt. Die Zeit war auf die Seite gedreht worden und ging in einer Kurve weiter. Als Hank sich auf mich legte und das Bett ins Wanken brachte, wurde ich unter seinem Gewicht starr. Ich hörte das Kopfende des Betts an die Wand klopfen. Ich glaubte, daß Mr. Pendergast unten zuhörte. Ich fragte mich, ob das nun sei, wovon alle so viel redeten und woran sie dachten.

Hör auf wollte ich sagen. Hör damit auf. Aber ich konnte nicht. Laß das, wollte ich sagen, aber ich tat es nicht. Und als Hank stärker schaukelte, rutschten die Bettpfosten auf den Dielen. Was er tat, tat ein bißchen weh, aber es tat auch wohl. Ein süßes Weh, eine heiße Süße.

"Oh", sagte ich. Und ich dachte, du mußt aufhören. So können wir nicht weitermachen, denn ich geriet außer Atem. Und Hank auch. Hör auf damit, dachte ich. Vielleicht dachte ich auch: Hör nicht auf Hörjetzt nicht auf

Alle Farben fingen an, mir im Dunkeln durch den Kopf zu ziehn: Rot und Grün und Gelb und Schwarz. Sie gingen ineinander über und ergossen sich übereinander. Und die Farben schwollen und wurden mächtiger, als ich je gedacht hatte, daß sie werden könnten. Und sie waren wie Musik.

Laß es jetzt, dachte ich. Wir müssen aufhören oder wir wecken den alten Pendergast. Wir wecken die Hühner im Hühnerstall und wir wecken das Pferd und das Schwein im Koben. Wir wecken die Sterne über den Bergen und die Vögel, die auf dem Dachbalken der Scheune nisten. Aber noch immer flossen die Farben hinter meinen Augen, das Purpurrot und das Blau und die salzigen Farben wie Orange und Gelb. Gelb ist so salzig wie Butter auf Maiskolben. Das Gelb war hoch aufgeschwollen und butterig. Und ein Goldbraun war am allersalzigsten.

Und weiter unten spürte ich ein Niesen kommen. Es war das beste Niesen und kam aus meiner Mitte und flilir durch mich und wollte, daß ich alles loslasse, was ich zurückhalte. Und ich nieste rasch und dann noch mal. Es war das süßeste Niesen, so tief und voll, daß es weh tat.

Hank schob und stieß und trat mit den Füßen gegen das Fußende des Bettes, als ob er im Liegen rannte oder im Liegen tanzte. Dann hörte man in den Brettern einen Ruck und das Quietschen sich lockernder Nägel. Wir krachten auf den Fußboden. Es hörte sich an, als ob das Haus einstürzte, aber ich wußte, was passiert war, obwohl ich in der Dunkelheit nichts sah. Das alte Bett war auseinandergebrochen, und das Fußende war abgefallen. Federn und Matratze waren auf den Boden gerutscht.

Ich lag auf der Diele und wußte, daß Mr. Pendergast unter uns aufgewacht sein mußte. Aber ich kicherte ein bißchen, und Hank legte seinen Kopf auf meinen Hals und kicherte auch. Wir waren beide völlig erschöpft, und es war schön, einfach nur still dazuliegen. Ich horchte, ob sich Mr. Pendergast unten rührte. Aber ich hörte nur meinen eignen Atem und Hanks Atem. Und dann knallte es wieder, und ich wußte, daß das Kopfende abgefallen war.

"Du lieber Himmel", sagte ich im Dunkeln. Ich glaubte, jemand im unteren Stock lachen zu hören, aber ich war nicht sicher. Es hätte auch eine Schleiereule im fernen Wald oder der Wind im Gebälk sein können. S. 58-62

Lesezitate nach Robert Morgan - Gap Creek





© 7.10.2001 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de