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Imre Kertész - Kaddisch für ein nicht geborenes Kind

»Kaddisch für ein nicht geborenes Kind« ist ein Buch, das den Leser betroffen zurücklässt, voller Scham darüber, was Menschen einander antun können. Imre Kertesz, 1929 in Budapest geboren, erzählt seine eigene Geschichte; seine Kindheit und Jugend, wie er darunter litt Jude zu sein, wie er ins KZ nach Auschwitz gebracht wurde und welche Wendung sein Leben erfährt, als er 1945 den Holocaust überlebte.

Das Konzentrationslager ist fortan das Maß aller Dinge. Seine Arbeit, seine Ehe, sein Gedanke an Kinder, der zu denken ihm nicht mehr möglich ist mit den Erfahrungen, die er gemacht hat. So spricht er das Kaddisch, das jüdische Totengebet. Immer wieder zitiert er die Todesfuge von Paul Celan.

Sein Grab in den Wolken wurde schon begonnen, doch noch ist er gezwungen mit dem Mal, das KZ überlebt zu haben, weiterzuleben. Imre Kertesz bietet keine leicht verdauliche Lektüre, doch sein Buch lohnt den Aufwand.
© manuela haselberger, 14.12.1992


Imre Kertész - Kaddisch für ein nicht geborenes Kind
Originaltitel: Kaddis a meg nem született gyermekért , © 1990
Übersetzt von György Buda und Kristin Schwamm

© 1999, Reinbeck, Rowohlt Tb. , 155 S., 7.90 € (TB/broschiert)




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"Nein!" sagte ich augenblicklich, sofort und ohne zu zögern, gewissermaßen instinktiv, weil es inzwischen ganz natürlich ist, daß unsere Instinkte gegen unsere Instinkte arbeiten, daß quasi unsere Gegeninstinkte statt unserer Instinkte arbeiten, ja mehr noch, an ihrer Stelle so geistreichelte ich, falls das geistreich genannt werden kann, das heißt, falls die nackte, jämmerliche Wahrheit geistreich genannt werden kann -, so erzählte ich also dem Philosophen, der mir entgegengekommen war, nachdem sowohl er als ich in dem verkümmernden und vor Krankheit, vielleicht vor Schwindsucht, fast hörbar keuchenden Buchenwald eingehalten hatten, diesem Buchenhain oder wie ich es nennen soll, ich gestehe, ich bin schwach und unwissend, was Bäume angeht, ich erkenne nur die Fichte an ihren Nadeln, und dazu die Platane, weil ich die Platane liebe, und was ich liebe, erkenne ich sogar noch heute, selbst mit meinen Gegeninstinkten erkenne ich es, wenn auch nicht mit jener würgenden, den Magen zur Faust ballenden, sprungbereiten, elektrisierenden, sozusagen erleuchteten Erkenntnis, mit der ich das erkenne, was ich hasse. Ich weiß nicht, warum bei mir immer alles und warum es mit allem anders ist, das heißt, falls ich es vielleicht doch wissen sollte, ist es einfacher, wenn ich es so weiß, daß ich es nicht weiß. Das würde mir viele Erklärungen ersparen. Doch anscheinend kann man Erklärungen nicht umgehen, stets erklären wir uns und alles, selbst das Leben, dieser unerklärbare Komplex von Phänomenen und Empfindungen, fordert uns Erklärungen ab, unsere Umgebung fordert uns Erklärungen ab, und endlich fordern wir uns selbst Erklärungen ab, bis es uns zu guter Letzt gelingt, alles um uns zu vernichten, auch uns selbst zu vernichten, uns selbst zu Tode zu erklären so erklärte ich dem Philosophen mit diesem Redezwang, diesem mich selbst anwidernden und doch nicht zu besiegenden Redezwang, der mich immer ergreift, wenn ich nichts zu sagen habe, und der, wie ich fürchte, derselben Wurzel entspringt wie meine Art, in Gasthäusern, in Taxis, bei der Bestechung amtlicher und halbamtlicher Personen üppige Trinkgelder zu verteilen, und wie gleicherweise meine übertriebene, bis zur Selbstaufgabe übertriebene Höflichkeit, als fürchte ich ununterbrochen um meine Existenz, um diese Existenz. Oh Gott. Ich war bloß im Wald spazieren - wenn auch nur in diesem kümmerlichen Eichenwald -, an der frischen Luft - wenn diese Luft auch einigermaßen verdorben ist -, um meinen Kopf ein wenig auszulüften, sagen wir das einmal so, weil es gut klingt, wenn wir nicht nach dem Sinn der Worte sehen, denn so wir nach dem Sinn sehen, haben die Worte, nicht wahr, keine Bedeutung, wie es auch mein Kopf nicht nötig hat, ausgelüftet zu werden, ich bin, im Gegenteil, außer-ordentlich zugempfindlich; ich verbringe - verbrachte - also meine Zeit hier, vorübergehend (und ich gehe jetzt nicht ein auf die Möglichkeiten, die dieses Wort bietet), hier, inmitten dieses ungarischen Mittelgebirges, in einem Haus, nennen wir es Erholungsheim, obwohl es auch noch als Arbeitsplatz angeht (denn ich arbeite immer, und dazu zwingt mich nicht nur das Fortkommen, denn wenn ich nicht arbeiten würde, dann lebte ich, und lebte ich, nun, ich weiß nicht, wozu mich das zwänge, und es ist auch besser, das nicht zu wissen, wenngleich meine Zellen, mein Eingeweide es sicherlich ahnen, deshalb arbeite ich ja ununterbrochen: solange ich arbeite, bin ich, wenn ich nicht arbeitete, wer weiß, ob ich überhaupt wäre, also nehme ich es ernst, und ich muß es auch ernst nehmen, da es zwischen meiner Arbeit und meinem Fortbestehen die allerernstesten Zusammenhänge gibt, das ist ganz offenkundig), in einem Haus also, in dem einen Platz: zugewiesen zu kriegen ich das Recht erworben habe, in der illustren Gesellschaft Intellektueller vom gleichen Schlage, denen ich ebendarum auch nicht ausweichen kann, wie still ich mich auch in mein Zimmer zurückziehen mag - ich verrate das Geheimnis meines Verstecks höchstens mit dem verhaltenen Klappern meiner Schreibmaschine -, wie leise ich auch die Gänge entlangschleiche, essen muß man aber doch, und dabei nehmen mich die Tischgenossen mit ihrer schonungslosen Anwesenheit in ihre Mitte, spazierengehen muß man doch auch, und dabei kommt mir in seiner Derbheit und so gar nicht dorthin passend, mit seiner braun und beige karierten Schirmmütze, seinem weitgeschnittenen Raglan, mit seinen schmalen, blaßgrünen Augen und dem großen, weichen, einem durchgekneteten und bereits aufgehenden Hefeteig ähnlichen Gesicht, mitten im Wald Doktor Oblath, der Philosoph, entgegen. Das ist sein ordentlicher bürgerlicher Beruf, übrigens auch durch die entsprechende Rubrik seines Personalausweises nachweisbar: Doktor Oblath ist ein Philosoph, wie Immanuel Kant, so wie Baruch Spinoza oder wie Heraklit von Ephesos Philosophen waren, so wie ja auch ich ein Schriftsteller und literarischer Übersetzer bin, ich mache mich selbst nur nicht noch lächerlicher durch die Größen, die ich hinter diesem Titel in Reih und Glied aufstellen könnte und die noch echte Schriftsteller und manchmal - auch echte Übersetzer waren, weil ich auch ohnedies lächerlich genug bin mit meinem Beruf und weil die Tätigkeit als Übersetzer meinem Herumhantieren in den Augen mancher - vornehmlich der Behörden - einen Anschein der Objektivität und, aus anderem Grunde zwar, aber auch in meinen eigenen Augen, vielleicht einen gewissen Anschein eines nachweislichen Berufes verleiht.

"Nein!" tobte, heulte etwas in mir, augenblicklich und sofort, als meine Frau (ansonsten schon lange nicht mehr meine Frau) zum erstenmal darauf - auf dich - zu sprechen kam, und mein Gewinsel verstarb nur langsam, eigentlich wohl erst nach langen, langen Jahren zu einem melancholischen Weltschmerz, wie Wotans tobende Wut anläßlich des bekannten Abschiedes, bis gleichsam aus den Nebel-gebilden der verwehenden Bläserstimmen, langsam und bösartig wie eine schleichende Krankheit, eine Frage in mir immer festere Umrisse annahm, und diese Frage bist du, genauer: diese Frage bin ich, jedoch durch dich fraglich gemacht, noch genauer (und dem stimmte auch Doktor Oblath zu): mein Dasein als Möglichkeit deines Seins betrachtet, das heißt ich als Mörder, wenn die Genauigkeit ins Unendliche, ins Unmögliche gesteigert werden soll, und dies ist mit etwas Selbstpeinigung auch zu gestatten, denn es ist Gott sei Dank zu spät, es wird immer bereits zu spät sein, du existierst nicht, und ich kann volle Gewißheit darüber haben, daß ich in Sicherheit bin, nachdem ich mit diesem "Nein" alles zertrümmerte, alles zusammenstürzen und zu Staub werden ließ, vor allem meine mißlungene, kurzlebige Ehe, erzähle - erzählte - ich Doktor Oblath, dem Doktor der Philosophie, mit der Gelassenheit, die mich das Leben zwar nie lehren konnte, die ich aber jetzt schon so ziemlich geübt ausübe, wenn es unbedingt notwendig ist. Und diesmal war es notwendig, denn der Philosoph war in versonnener Stimmung genaht, das sah ich sofort an seinem leicht seitlich geneigten Kopf, auf dem seltsam platt die kecke Schirmmütze saß, so als habe sich mir ein spaßhafter Wegelagerer genaht, der schon einige Gläschen geleert hat und nun darüber nachsinnt, ob er mich niederschlagen oder sich mit etwas Lösegeld begnügen soll, aber Oblath sann, und fast hätte ich gesagt: leider, ganz und gar nicht über diese Frage nach, ein Philosoph pflegt nicht über Wegelagerei nachzudenken, und tut er es doch, so erscheint sie als gewichtige philosophische Fragestellung vor ihm, die Schmutzarbeit aber verrichten die Fachleute, nun, so etwas haben wir schon gesehen, obwohl es schiere Willkür und fast schon eine Verdächtigung ist, daß mir dies gerade im Zusammenhang mit Doktor Oblath einfällt, denn ich kenne seine Vergangenheit nicht, und er wird sie mir hoffentlich auch nicht erzählen. Nein, das nicht, er überraschte mich aber mit einer nicht weniger indiskreten Frage, als erkundige sich jener Wegelagerer, wieviel Geld ich in meiner Tasche habe, er begann, meine familiären Umstände zu erkunden, zwar indem er mich eingangs über seine eigenen Umstände unterrichtete, gleichsam als Vorschuß, gleichsam postulierend, daß, wenn ich alles über ihn erfahren könne, obwohl ich daran überhaupt nicht interessiert war, er damit ein Anrecht ableiten könne, meine. . . aber ich halte mit dieser Erörterung inne, weil ich spüre, daß mich die Buchstaben, die Worte mitreißen, ich drifte in eine falsche Richtung, in Richtung moralisierender Paranoia, bei der ich mich heutzutage leider öfter ertappe und deren Gründe mir allzu offenkundig sind (Einsamkeit, Isolation, freiwillige Verbannung), als daß sie mir Sorge bereiten könnten, habe ich sie doch selbst hergestellt, gleichsam als einige anfängliche Spatenstiche zu einer viel viel tieferen Grube, die ich noch, Erdklumpen für Erdklumpen, ausheben muß, damit es etwas gebe, das mich der- einst aufnimmt (obwohl es möglich ist, daß ich nicht in die Erde, sondern in die Luft grabe, denn da liegt man nicht eng), Doktor Oblath hatte mir ja, alles in allem, nur die unverfängliche Frage gestellt, ob ich Kinder habe; allerdings mit der für den Philosophen charakteristischen groben Offenheit, das heißt ohne Feingefühl und auf jeden Fall im ungeeignetsten Augenblick; woher hätte er aber auch wissen können, daß seine Frage mich, nicht zu leugnen, einigermaßen aufwühlt. Daß ich dann auf diese Frage mit meinem aus übertriebener, bis zur Selbstaufgabe übertriebener Höflichkeit stammenden Redezwang antwortete, der mich, während ich sprach, so sehr anwiderte, dennoch aber dies erzählte, dieses "Nein!" sagte ich augenblicklich, sofort und ohne zu zögern, gewissermaßen instinktiv, weil es inzwischen ganz natürlich ist, daß unsere Instinkte gegen unsere Instinkte arbeiten, daß sozusagen unsere Gegeninstinkte statt unserer Instinkte arbeiten, ja mehr noch, an ihrer Stelle: ja, wegen dieses ganzen törichten Geredes, wegen meiner eigenen, freiwilligen und durch nichts zu begründenden (auch wenn ich eine Unmenge von Gründen habe, die ich zum Teil oben bereits aufgezählt habe, wenn ich mich richtig erinnere) Erniedrigung wollte ich es Doktor Oblath, dem Philosophen, heimzahlen, als ich ihn so beschrieb, wie ich ihn beschrieb, inmitten des verkümmernden Buchenwaldes (oder sei es Lindenhains), obgleich die flache Schirmmütze, der weitgeschnittene Raglan wie auch die schmalen, blaßgrünen Augen und das große, weiche, einem …. S. 7-13

Lesezitate nach Imre Kertész - Kaddisch für ein nicht geborenes Kind


Imre Kertész
bekam den
Nobelpreis
für
Literatur
2002


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Imre Kertész
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Roman eines Schicksallosen.

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Ich, ein anderer.

© 1999



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 Hardcover



Roman eines Schicksallosen.

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Der Spurensucher.

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© 14.12.1992 by Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de