"Oh." Sie setzte sich aufs Bett. Es tat Ihr schon leid, überhaupt
davon angefangen zuhaben.
"Aber du könntest für das Geld auch was zu essen besorgen,
falls du zu den Leuten gehörst, die ab und zu mal Hunger haben", fuhr er fort. "Hast du manchmal Hunger?"
"Ich hab Hunger", sagte Miranda.
"Du bist still. Mit dir red ich jetzt gar nicht. Du hast dein
Mittagessen vor ´ner halben Stunde gehabt."
"Psst, Liebling", sagte Jamie zu Miranda. Sie streckte die Hand
nach dem Kind aus, vielleicht, um es in den Arm zu nehmen
oder ihm die Haare zu flechten. "Okay. Was hast du heute noch
so alles vor?" fragte sie Bill Houston leichthin.
"Wechsel jetzt bloß nicht das Thema", sagte er. "Ich hatte zwei-
tausenddreihundert. Zweihundert hab ich noch. Und ich würd
wirklich gern mal eines wissen - wo zum Teufel ist das alles geblieben?" Er zog den Bauch ein und zurrte den Gürtel fest.
Natürlich war Pittsburgh kälter und öder als Oakland, aber
schmutziger war es nicht. Was dieser Stadt im Gegensatz zu
Oakland fehlte, war ein Himmel. Am Tag sah es hier aus, als
wäre die Sonne mit alten Zeitungen überklebt, und nach Einbruch der Dunkelheit endete das Universum zwei Meter über
der höchsten Straßenlampe. In Pittsburgh gab es keine Morgenröte und keine Sonnenuntergänge; es gab kein Firmament,
an dem sie hätten erscheinen können.
An diesem Abend waren die Geschäfte in der Irvine Street noch
offen. Sie warfen immerhin so viel Licht auf die Bürgersteige, daß Jamie beinahe Farben unterscheiden und den Leuten
Freuden und Sorgen vom Gesicht ablesen konnte. Sie versuchte, es in vollen Zügen zu genießen: Wußte sie doch, daß die Irvine Street in die Second Avenue mündete, für Bill Houston das Tor zu Ausschweifung und seligem Vergessen. S. 26
Mit einer Hand schob er sie durch die Tür.
Jamie mißfiel es drinnen auf der Stelle. An der Bar saßen Frauen ohne Begleitung, die trübsinnig, mit vorgerecktem Kinn, an
ihren Drinks nippten. Zahllose Geräusche erfüllten den Raum
- leise Gespräche, Stühlerücken, eine Stimme, die sich heftig
erregte und wieder erstarb -, doch in ihrem übermüdeten,
gereizten Zustand schien es Jamie, als brächen diese Geräusche unablässig gelähmtes Schweigen, und sie war drauf und
dran, wie in einem Krankenhaus zu flüstern. "Komm, wir
gehn wieder und gucken, was im Fernsehen läuft", sagte sie
nicht laut, und Bill Houston warf ihr einen Blick zu. "Ich bin
total fertig", fügte sie hinzu. Sie setzten sich an einen Tisch
ziemlich weit vorn. Irgendwo weiter hinten haute ein Mann
auf den Tisch und warf dabei ein Glas um; die Frau, die bei ihm
war, stand abrupt auf und marschierte steif, mit schaukelnden
Ohrringen, davon. Sie waren umgeben von Männern, die allein vor ihren Getränken hockten und vor sich hin stierten.
Ganze zwanzig Sekunden waren sie nun hier, und schon passierte nichts. Niemand kam an ihren Tisch, um ihre Bestellung
aufzunehmen. Dann trat ein Mann zu ihnen und versuchte,
Jamie von Bill Houston loszueisen. Er zeigte auf die Frau an
der Bar, mit der er zusammen da war, und schlug einen Tauschhandel vor.
"Das hab ich kommen sehn, daß das passieren würde", sagte
Jamie.
"Ist das dritte Mal, daß ich sie aufgegabelt hab - drüben in der
Far East Lounge", erklärte der Mann und zeigte erneut auf die
Frau an der Bar. Die Frau kratzte sich gerade mit dem kleinen
Finger am Hals, während sie sich im Spiegel betrachtete. Bill
Houston hörte höflich zu.
"Oh, die ist in Ordnung", sagte der Mann schnell. "Die ist ganz
okay. Bloß daß ich nun schon sechsmal mit Ihr losgezogen bin,
und sie erzählt immer dieselben Witze. Aber für dich wärn sie
doch neu, oder? Was meinst du?" Er wandte sich an Jamie.
"Und du? Hättest doch bestimmt nix dagegen." S. 30
Bill Houston machte "Uuuuuuuuuuh! ", wollte eigentlich, einem
betrunkenen Seemann gleich, ein Lied anstimmen, brach dann
jedoch ab, er hatte vergessen, was er singen wollte. Außerdem
war er ja gar kein Seemann mehr. Er war bloß ein Blödmann,
der sich rumtrieb, nicht weniger übellaunig als der Wind. Er
war ein Ex-Seemann und ein Ex-Täter - wenn er auch ums
Verrecken nicht sagen konnte, wem er eigentlich was getan haben sollte -, er war ein Ex-Ehemann - drei Ex-Ehemänner, genaugenommen -, und er war sein Geld und Jamie in Pittsburgh losgeworden, hatte das Geld springen lassen wie der Seemann,
der er nicht mehr war, hatte Jamies kleinen Liebling Miranda
geohrfeigt - die ganz bestimmt zu einer billigen Nutte heranwachsen würde - und fünfzig Prozent ihrer gemeinsamen Zeit
in alkoholischer Umnachtung verbracht. Wo war Chicago hergekommen? Es jagte ihm tief in seinem Inneren Angst ein, in
unerwarteten Städten aufzuwachen, mit großen Löchern in
seiner Erinnerung, und dann auch noch hören zu müssen, daß
er irgend etwas getan, ja womöglich sogar etwas verbrochen
hatte: daß sein Körper sich selbständig machte und vielleicht
sein ganzes Leben auf den Kopf stellte, indem er irgendwelche
üblen Spielchen trieb, für die er, Bill, dann eines Tages die Zeche zahlen müßte.
Er lehnte sich mit dem ganzen Rücken an ein Gebäude und
hatte das Gefühl, sich hinzulegen, während er doch aufrecht
dastand. Die Straßen schwangen hin und her wie eine Glocke.
Keine Frage, es war ein schwindelerregendes Leben. Irgend-
was stimmte nicht. Wenn er trocken war, glaubte er, es wäre
der Alkohol, der ihm fehlte, aber sobald er ein paar Gläser
intus hatte, wußte er, daß es etwas anderes war, vielleicht eine Frau, und selbst wenn er alles hatte, Kohle, Schnaps, eine
Frau, konnte ihn das nicht von der großen Leere ablenken,
die unaufhörlich durch ihn hindurchfiel, ohne je unten aufzutreffen. Er hätte sich in Pittsburgh irgendeinen Scheißjob besorgen sollen! Er fing an zu weinen, und jeder einzelne Schluchzer stieg so langsam in Ihm auf, als wäre er ein Ding
mit Widerhaken. Im kalten Wind brannten die Tränen auf
seinem Gesicht. Er rollte den Kopf an den Backsteinen hin
und her und schrie: "Ich will meine Schuldigkeit tunt~ Doch
im Getöse des Straßenverkehrs klang das wie das Allerverächtlichste, was er je gesagt hatte, und so zog er weiter die Straße entlang. S. 48-49
Sie begannen, es den "Anschlag" zu nennen, und nach einer
Weile war damit alles gemeint: daß sie sich gefunden hatten, als
sie fast verloren waren; daß sie sich liebten und alle anderen
haßten; daß sie sich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit
fortbewegten, ohne vom Fleck zu kommen; daß sie auf den
Straßen einfroren und in den Räumen der Liebe schmolzen.
" Der Anschlag " war beherrschend und nutzlos wie ein Messer,
das irgendwo mittendrin steckte. Sie konnten ihn hassen und
drumherum ihr Bild von sich selber arrangieren.
Wenn sie sich liebten, verhielt sich Jamie während des ganzen
Akts sehr still, als warte sie auf eine schlimme Nachricht. Durch
das Geheimnis ihrer geschändeten Gegenwart erregt, konnte
Bill Houston nicht von ihr lassen, doch sobald sie fertig waren,
setzte er sich auf und stellte die Füße auf den Boden, gereizt
und verwirrt, weil er sich mitschuldig fühlte. "Sieh dir bloß mal
deine Hände an", sagte Jamie zu ihm. "Guck doch mal, wie
gelb die beiden Finger da sind. Du ziehst dir diese Camels rein,
als wolltest du dir den Rauchertod holen."
Bill Houston fand, dies war die passende Gelegenheit, sich eine
Zigarette anzustecken. Er ließ das Streichholz fallen und schob
es mit der großen Zehe unters Bett. "Ich hab Kontakt mit n paar
Leuten in Phoenix", sagte er.
"Phoenix? Wie, in Phoenix, Arizona?"
"Mit ein paar schlechten Leuten", sagte er.
Ihr Magen zog sich zusammen. "Phoenix, Arizona, USA?" Sie
nahm selber einen Zug von seiner Zigarette. "Was hast du
vor?"
"Tja", sagte er, "ich weiß nicht. Vielleicht gar nichts. Ich hab
mir nur gedacht, wir sollten nach Phoenix fahren, weiter
nichts."
"Wer sind denn diese Leute, mit denen du da Kontakt hast?
Diese schlechten Leute?"
"Freunde und Verwandte", sagte Bill Houston.S. 77-78
Das Baby schlief hinten im Haus auf Mrs. Houstons Bett, und Stevie, die Frau von James, war mit Ihrem
Jungen und Jamies kleinem Mädchen im Badezimmer, um die
beiden bis zum Abendessen sauberzukriegen. Mrs. Houston
liebte sie alle. In diesem Augenblick, einem Augenblick außer-
halb der Zeit, störte es sie nicht, daß manche von ihnen sich
dem Schicksal hingegeben hatten und gefährlich geworden
waren. Und es bekümmerte sie auch nicht, daß sie das Palavern
solcher Männer sehr wohl kannte: Männer, die sich bei Familientreffen beiläufig und knapp, nur eben außer Hörweite,
miteinander unterhielten. Schreckliche Dinge geschahen erst
später.
Plötzlich tauchte wie aus dem Nichts Jamies kleines Mädchen
vor ihr auf. Es schien, als wollte sie etwas sagen. Bevor die Worte herauskamen, fern aller anderen Stimmen und Geräusche
auf der Welt, hatte Mrs. Houston das Gefühl, sie und das Kind
seien in der Kühle des Wohnzimmers in eine grenzenlose Einsamkeit gehüllt, und Ihr war, als ob die anderen sie vollkommen vergessen hätten. "Kann ich die Haare vom Mais abmachen?" fragte das kleine MädchenS. 112
Burris hatte das Gefühl, überhaupt keinen Körper mehr zu ha-
ben. fm Spiegel auf der Toilette war er für sich unsichtbargewesen, und er hatte sich in seinen Kleidern kaum noch gespürt, weil die Welt der Ereignisse aus der Person, die er gewesen war eine Geschichte gemacht hatte. Er war einer der Houston-
Jungs: unehelicher Sohn des Mörders H. C. Sandover, Bruder
des Mörders Bill Houston. Er war einer, wie er ihn sich niemals
hätte vorstellen können, Angehöriger eines Klans, den Tieferes
verband als bloß Blut. Ihr könnt mit uns machen, was ihr wollt,
dachte er, aber ihr könnt nicht so tun, als hätte es uns nie gegeben. Auf einmal kam es ihm vor, als sei alles, was ihn hier in der
Dunkelheit umgab, falsch und nur er selber echt, als sei die Vorderseite seines Körpers ins Licht der gemarterten Leinwand getaucht, auf der die James-Brüder Ihre blutenden Kameraden
im Wald liegen ließen und sich mit leeren Händen in eine Zukunft aufmachten, die aus Mord und Unfreiheit bestand: eine
Zukunft, die wie die Vergangenheit war. S. 153-154
'
Er stand am drahtvergitterten Fenster, die Arme vor der Brust
verschränkt. Er suchte sich von dem Anblick loszureißen und
einen Moment lang über etwas Wichtiges nachzudenken, über
Jamie, die irgendwo in diesem Krankenhaus war und der er
Frieden wünschte, oder darüber, wie er diese Leute davon
überzeugen könnte, daß er verrückt war, unfähig, Recht und
Unrecht auseinanderzuhalten - aber im Grunde wollte er nur
auf diese gewöhnliche Straße hinunterschauen, die langsam
von der Abenddämmerung erfaßt wurde.
Jedesmal wenn er schluckte, verschluckte er eine halbe Rede.
Dinge, die gesagt werden mußten, wühlten, von Säure umspült, in seinem Bauch, doch wegen seiner Verwirrung, die gemessen an den erhabenen Vorgängen auf dieser beliebigen Straße beträchtlich war, brachte er kein Wort heraus. Er begriff,
daß er hingerichtet werden und sterben, daß alles, was er sah,
ihn überdauern würde. Seit Wochen mit sich allein, hatte er
begonnen, direkt zum Herzen des Augenblicks zu sprechen, al-
les fürchtend, immer neu und immer stärker davon überzeugt,
daß er bald zerbrechen und dann entlarvt würde, vernichtet
würde, geboren werden würde. Er erkannte darin ein altes Ge-
fühl wieder, das früher gekommen und gegangen war, jetzt jedoch kam und blieb. Er lebte allein und dachte allein. Das Wesen des Mordes ließ ihn in seinem Innersten allein sein; nie war er so allein gewesen.
Geschafft, sagte er zu der Tankstelle draußen. Ich bin bereit, es
kann losgehen. Den Schmerz kann ich ertragen, nur die Angst
krieg ich nicht kleinS. 183
Lesezitate nach Denis Johnson - Engel