Ulla Hahn - Das verborgene Wort (Buchtipp/Rezension/lesen)
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Lommer Jonn, sagte der Großvater; laßt uns gehen, griff in die Luft und rieb sie zwischen den Fingern. War sie schon dick genug zum Säen, dünn genug zum Ernten? Lommer jonn. Ich hing mir mein Weidenkörbchen über den Arm und rief den Bruder aus dem Sandkasten. Es ging an den Rhein, ans Wasser. Sonntags mit den Eltern blieben wir auf dein Damm, dem Weg aus festgewalzter Schlacke. Zeigten Selbstgestricktes aus der Wolle unserer beiden Schafe und gingen bei Fuß. Mit dem Großvater liefen wir weiter, hinunter; dorthin, WO (las Verbotene begann, und niemand schrie: Paß op de schoh op! Paß op de Strömp op! Paß op! Paß op! Niemand, der das Schilfrohr prüfte für ein Stöckchen hinter der Uhr. S. 7


Lesezitat nach Ulla Hahn - Das verborgene Wort


Der geheime Orden der Leser
Ulla Hahn - Das verborgene Wort

ie Liebe zu den Buchstaben und Wörtern entsteht bei Hildegard in ihrer frühesten Kindheit, als ihr der Großvater am Rhein einen so genannten Buchstein zeigt. Er ist überzogen mit einer Menge Schlieren und Linien; allein durch die Drehung des Steins lassen sich wunderbare Geschichten erzählen.

An Fantasie mangelt es Hildegard nie. Die alte, ausrangierte Tasche der Großmutter verwandelt sie in Frau Peps, der man wirklich alles sagen kann. Allerdings behält Hildegard die Geschichten alle für sich. Denn in der Familie hat niemand dafür Verständnis. Die Mutter hält sich streng an die strikten, katholischen Vorgaben der Großmutter und versteckt sich hinter der Autorität des Vaters. Er arbeitet als ungelernter Arbeiter in der Fabrik und treibt die Flausen seiner Tochter mit brachialer Gewalt aus. Dafür hasst sie ihn abgrundtief. Am meisten Verständnis für das verträumte Kind hat der Großvater. So genießen die beiden ihre gemeinsamen Spaziergänge am Rhein um so mehr.

Mit dem Beginn der Schule wird alles anders. Hildegard nimmt mit Erstaunen zur Kenntnis, dass es Buchstaben gibt, die eine ganze Welt entstehen lassen können. Zudem ein Reich der Fantasie, das sie mit niemandem teilen muss, das allein in ihrem Kopf zu Hause ist. "Meine Seele lebte aber in der Welt der Wörter." Denn die Wohnung daheim ist eng, Bücher werden als unnütz abgetan.

Als es um den Besuch einer weiterführenden Schule geht, ist der Vater nur schwer zu überzeugen. Höchstens die Mädchen - Realschule, mehr ist nicht drin. Hildegard ist selig. "Denken war Flucht in den Kopf, in die Freiheit. Freiheit war im Kopf. Und nur dort. Alles, was ich mir vorstellte, war so viel herrlicher als das, was ich in Wirklichkeit kannte. Und es gehörte mir, mir allein."

Ulla Hahn, die zunächst als mehrfach ausgezeichnete Lyrikerin bekannt wurde, hat in ihrem Roman "Das verborgene Wort" eine großartige Hymne an die Sprache geschrieben. Es ist eine enge, armselige, stark katholisch geprägte Kindheit am Rhein, die sie hier mit einer Vielzahl an Episoden heraufbeschwört, die nur durch die Flucht in die Bücher, die Welt der Literatur erträglich wird. Sie untermauert die Diskrepanz sprachlich durch den rheinischen Dialekt: Bei Hildegard daheim wird Dondorfer Platt gesprochen. Für den Leser verlangsamt diese ungewohnte Redeweise die Lesegeschwindigkeit drastisch, man ist gezwungen, wieder genau hinzuschauen, genau hinzuhören, eine Haltung, die in die Welt der Kindheit, in der die Zeit keine Rolle spielt, ganz vorzüglich passt. Mit dem Heranwachsen variiert Hildegard ihre Sprache: "Kölsch für Belangloses, Hochdeutsch fürs Wichtige. Reines Hochdeutsch für den Widerspruch."

Ein wunderbarer Roman, der für alle leidenschaftlichen Leser eine Offenbarung ist. Wobei sie die Leidenschaft für die Welt der Buchstaben bereits kennen, doch selten wurde sie so sprachgewaltig und virtuos in Worte gefasst. © manuela haselberger


Ulla Hahn - Das verborgene Wort
2001, Stuttgart, DVA, 595S. / 25.46 €
2001, Stuttgart, DVA Der Audio Verlag, 20 Tracks, 137min, 2 CDs mit Booklet, 39,94 DM / 20.42 €
Ulla Hahn liest selbst 40 aus ihren 600 Seiten

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Fortsetzung des Lesezitats ...
Vom Westen wehte ein feuchter; lauer Wind. Der Rhein roch nach Fisch und Metall, Seifenlauge und Laich, und das Tuten der Schleppkähne bevor sie an der Raffinerie in die Kurve gingen, war schon jenseits des Dammes in den Feldern und Weiden zu hören.

Ich riß mich los von der Hand des Großvaters, rannte vorwärts, zurück, ergriff seine Hand, ließ sie fahren und hielt sie wieder, fiel hin und stieß mir das Knie, schrie, Freudenschreie, aufsässig und wild. In einem weiten Bogen führte ein Pfad die Böschung hinab durch sumpfige Wiesen, durchs Schilf ans Ufer aus Sand und Kies,

Der Großvater ging voran, dicht am Wasser entlang. Flache Wellen füllten die Mulden, die sein Klumpfuß im nassen Sand hinterließ, winzige Teiche, eine blinkende, blitzende Spur; wie nur er sie schaffen konnte.

Wo im seichten Wasser am Ufer die Algen schwangen, zeigte er uns den Bart des Wassermannes, ein gewaltiges grünes Gestrüpp, das nichts von seinem Gesicht erkennen ließ und von der Piwipp, einem Bootshaus am gegenüberliegenden Ufer; bis zur Rhenania reichte. Sprang ein Frosch hoch, sagte der Großvater Prosit! und wir riefen Hatschi! Der Riese hatte geniest. S. 7

Nach einer Weile zauberte der Großvater seine Mundharmonika wieder weg und hexte Hasenbrote hervor. Köstliches Graubrot mit Rübenkraut oder Holländerkäse. Jede Scheibe einzeln wollte er den Hasen abgejagt haben. Von der Großmutter kam nur das Pergamentpapier. Das mußte man falten und wieder mit nach Hause bringen. War das Brot vom bösen Hasen, wollten wir wissen, dem mit den grausigen Zähnen und Ohren, so lang, daß er sie am Hinterkopf verknoten mußte, um beim Hakenschlagen nicht draufzutreten. Immer war es dem Großvater am Ende gelungen, den Hasen hereinzulegen, sei es, daß er sich ein grünes Taschentuch über den Kopf gelegt und der Hase ihn für einen frischen Kohlkopf gehalten hatte, sei es, daß es ihm geglückt war; dein Hasen Salz auf den Schwanz zu streuen. Jedesmal zog der Großvater sein Taschentuch oder ein Backpulvertütchen mit Salz hervor, seine Waffen, Beweis für Jagd und Beute.

Nach dem Essen nahm der Großvater mich in seinen rechten Arm, den Bruder zwischen die Knie, und wir gingen auf Reisen zur alten Kopfweide zwischen Pappeln mit Erlengestrüpp, ein paar Meter von uns entfernt.

Nur dä Stamm, sagte der Großvater. Ich heftete meine Augen auf das rissige Anthrazit, die gekrümmte, schrundige Borke, die matt glänzenden. unregelmäßig gekerbten Rechtecke der Rinde, ihre Vertiefungen. holzigen Rinnsale, grün, wo der Wind das alte Holz feucht verfärbt hatte. Meine Augen öffneten die Weide, öffneten sich für die Weide, Weide wurde zu Augen, die Augen zu Weide, Augenweide. Stark und spielerisch, frei und beharrlich genoß ich jede Bewegung der Pupillen, vor und zurück, auf und nieder, Kreise und Winkel von dunklen und hellen Flecken, schwebend im Raum und tief in die Dinge getaucht. Wie viele Seiten hatte ein jedes Ding? So viele, wie wir Blicke für sie haben, sagte der Großvater.

Regungslos lagen wir auf dem Rücken im Sand, wenn der Großvater befahl, die Augen zu schließen und die Ohren auszustrecken. An geschmeidigen Röhren fuhr ich meine Ohren in die Landschaft hinaus, näherte mich dem Erdboden, den zirpenden Grillen, ein betäubender Lärm, suchte nach stillen Fleckchen im Gras, hörte das beharrliche Trommeln seiner Wurzeln, das Zischen millionenfacher grüner Zungen, hörte die Käfer fressen, ein kleines Knacken, winziges Knistern, der Käfer kam näher; die Käferkiefer fragten: Wo bist du Biß, du, als wollten sie mich fressen. Ich zog die Ohren ein. Fuhr sie im hohen Bogen durchs zischelnde Schilf ins Sausen der Pappeln, hier einen Kuckuck schnappend wie der Fisch die Mücke, dort ein Bienensummen, Hummelbrummen, Libellensirren. Das Tuscheln der Wellen, ihr aufgeregtes Schlagen, wenn ein Kahn sich näherte, den Rhein hinauf oder hinunter, beladen oder leer. Mit meinen ausgestreckten Ohren lauschte ich es den Wellen ab; ließ die Ohren ein Stück weit auf den Kähnen fahren; das Flattern der Wäsche im Wind, das Bellen des Hundes an Bord, das Klappern der Töpfe aus der Kombüse, helle Frauenstimmen, die rauhen der Männer, Kindergeschrei. Über allem aber das Stampfen der Maschinen, so, daß ich die Ohren bald wieder zurückzog, sie hochfuhr; weit in den Himmel hinein, bis sie dort pendelten und an meiner Kopfhaut ruckten wie ein Luftballon in der Hand. S. 10-11

Lesezitate nach Ulla Hahn - Das verborgene Wort


Liebesgedichte

© 1993


© 8.10.2001 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de