Im Jahr 2000, prophezeite der Dichter Ezra Pound, wird es keine Lyrik mehr geben.
Here is my voice and it says "Hi!".
Hi, but my throat is dry.
A silent elegy just saves a cry.
Jetzt ist das alles wieder da. Das Gedächtnis meldet sich wie ein diensthabender Wachmann, der nur eben eingeschlafen war, und nun reibt er sich verstohlen die Augen und bemerkt mit einem kurzen Blick auf den Kalender, daß ein ganzes Jahrzehnt vergangen ist. Die neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, das war die Dekade der großen Umwälzungen in Europa, die den Untergang des Heiligen Sozialistischen Reiches Deutscher Nation sowie schließlich den des ganzen Byzantinisch-Sowjetischen Machtblocks brachte. Es war das Jahrzehnt der Vereinigungen und der Versöhnungen, aber auch des Gemetzels auf dem Balkan, in Ruanda und in Tschetschenien, Inkubationsphase und Probedurchlauf kommender Bürgerkriege in den zerbrechenden Imperien von gestern. Es war eine euphorische, eine mörderische und eine melancholische Zeit. Plötzlich fand sich der Kommunismus unterm Zeichen des Saturn. Durch die Ruinen der proletarischen Industriereviere streifte zum letzten Mal das Gespenst, das Karl Marx so freudig willkommen geheißen hatte. Nun sah es alt aus und grau und verkümmert, und es gehörte viel Phantasie dazu, aus seinem Keuchhusten noch einmal die Internationale herauszuhören. Junge dynamische Funktionäre, die letzten Sprößlinge der alten Nomenklatura, traten vor die Kameras der Welt und rezitierten den Epilog zu einer der großen Menschheits-Ideen, die in der Wirklichkeit gründlich gescheitert war. Jetzt ist das alles wieder da...
2. Januar
Ja, es ist immer noch nachchristliche Zeit. Ein neues Jahr hat begonnen, sagt man sich morgens im Bad. Ein neues Jahrhundert, posaunen die Zeitungen, und die Historiker schweigen. Ein neues Jahrtausend, brummt mürrisch der Altphilologe. Na wenn schon, könnte der Archäologe erwidern. Doch der zieht es vor, sich anderswo in den Staub zu knien.
Erstaunlicherweise findet sich nach der großen Silvesterfeier alles am alten Platz. Kein Zahnputzbecher hat sich über Nacht heimlich von selbst verrückt, die Spiegel sind von denselben Wasserflecken wie gestern gesprenkelt. Nur der Lilienstrauß in der gläsernen Vase an der Wand ist um einen Tag welker geworden, und man sieht es ihm an. Die ersten Blütenblätter liegen schon auf den Fliesen. Doch das Unbehagen der letzten Wochen läßt lange nicht nach. Irgendeine Kraft, wie gewöhnlich namenlos, sorgt dafür, daß sich nach und nach alles verändert, schleichend, aber unausweichlich: nichts bleibt, wie es war. Ein Blick in den Badzimmerspiegel genügt, und man hat die Ursache gefunden. S. 13-14
Draußen das grelle Sonnenlicht und drinnen, kaum trat man nach zweitausend Jahren dort ein, empfing einen die dumpfe Atmosphäre von Schweineställen. Wie Vieh wurden die Liebesdienerinnen in den fensterlosen Gelassen gehalten. Dicht neben den Koben lag die Latrine. Bei Tag und Nacht drang der Gestank und das Lustgeschrei auf die Straße, wie aus den Garküchen der Speisedunst. Am Eingang des Lupanars machte ein masturbierender Priapus Reklame für die dort angebotenen Dienste. Unvergeßlich blieb das Bewegungsbild zweier riesiger Schwänze. Es war die direkteste und brutalste Form der Anmache, vergleichbar den Pornomagazinen, in denen Models im Schneidersitz dem Betrachter ihre weit auseinandergezogenen Schamlippen entgegenhielten.
Welche Einsicht nimmt man von einem solchen Ort mit nach Hause? Was läßt sich lernen aus dem Untergang und der Auferstehung Pompejis? Zumindest dies: Macht, was ihr wollt, vergnügt euch, betrügt einander, freßt, hurt und studiert, treibt Glücksspiel und Handel, betet und intrigiert, doch hinterlaßt, um Gottes Willen, hinterläßt wenigstens Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden. Tut etwas für die Nachwelt, verewigt euch, egal ob in Meisterwerken oder kitschigen Bildern. Fügt dem großen Anfangsmythos ein paar originelle Darstellungen hinzu. In diesem Sinne sind die geschwätzigen Amouretten in den Wandnischen bemerkenswert, die Comics auf dem rissigen Mauerwerk ebenso wie die Fresken in der noblen Mysterien-Villa. Alles zusammen erst bildet den Kosmos einer verschwundenen Metropole: die Kritzeleien im Lupanar ebenso wie in den Villen die Illusionstapeten im Vierten Stil, die luxuriösen Bodenmosaike in den Stadtpalästen und Thermen genauso wie die Graifitis an den Mauern entlang der Via dell' Abbondanza und in den Gartenanlagen der raffinierte Blumen- und Statuenschmuck. Das war es, was in Erinnerung an Pompeji mir noch jedesmal durch den Kopf ging. Eines Tages werde ich dorthin zurückkehren, an Erfahrungen reicher, gelassener auch. Dem Ende ein ganzes Stück näher, will ich all das noch einmal sehen, vielleicht dann mit anderen Augen.S. 41
Lesezitate nach Durs Grünbein - Das erste Jahr