Durs Grünbein - Das erste Jahr (Buchtipp/Rezension/lesen)
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1. Januar 1000 Seltsamer Rückblick auf ein Jahrzehnt der hektischen Globetrotterei und des kurzatmigen Reisens in die Hauptstädte Europas. Verspäteter Kosmopolit, so lange eingesperrt hinter Mauern, blieb dir nur der Schnellkurs. Im Eilverfahren desillusioniert. Das einzige Fundstück, das manchmal wiederkehrt, ist eine Photographie aus dem fernen Melbourne, ein Augenblick unter Millionen nur, aber er hielt ein ganzes Märchenmotiv fest. Entwickelt nach Jahren, zeigt es ein Aborigineskind auf einer fahrbaren Krankenliege im Foyer eines Hotels, anläßlich eines Kongresses des Verbands der australischen Pflegeeltern: altklug lächelnd und babyhaft lallend, während es den uralten Strubbelkopf in den Kissen verdrehte, um dem Geschehen ringsum zu folgen. Der erste Gedanke damals: hier blicken dich mehrere tausend Jahre Stammesgeschichte an. Wie aus dem rötlichen Staub der australischen Wüste wendet sich dir das Gesicht eines großmutterähnlichen Säuglings zu. Das arme Geschöpf war offensichtlich gelähmt. Jenseits aller Prothesen und medizinischen Apparaturen war es der Blick des jüngsten Abkömmlings einer Jäger- und Sammlerspezies, dem deinen ungefähr so verwandt wie der Haushund dem Dingo.


Lesezitat nach Durs Grünbein - Das erste Jahr


Berliner Aufzeichnungen
Durs Grünbein - Das erste Jahr

Über ein ganzes Jahr, vom 1. Januar 2000 bis 31. Dezember 2000 hat der in Dresden geborene und seit 1985 in Berlin lebende Schriftsteller Durs Grünbein Tagebuch geführt. Seine Notizen sind im Band "Das erste Jahr" gesammelt.
Der Titel ist doppeldeutig: Zum einen beschreibt Grünbein das erste Jahr des neuen Jahrtausends, zum anderen fällt in diese Zeit die Geburt seiner Tochter, also auch ihr erstes Lebensjahr und Grünbeins erstes Jahr als Vater.

Doch die persönlichen Einträge, die man als Leser bei Tagebuch-Aufzeichnungen erwartet, treten eher in den Hintergrund. Es sind Gedanken-Assoziationen zu Dichtern oder Philosophen, die Grünbein beschäftigen. Oder ein beeindruckender Besuch in Pompeji, den er solange schon geplant hatte. "Welche Einsicht nimmt man von einem solchen Ort mit nach Hause?
... zumindest dies: Macht, was ihr wollt, vergnügt euch, betrügt einander, fresst, hurt und studiert, treibt Glücksspiel und Handel, betet und intrigiert, doch hinterlasst, um Gottes Willen, hinterlasst wenigstens Geschichten, die es wert sind erzählt zu werden."

Mit Geschichten wartet Grünbein leider nicht auf in seinen Berliner Aufzeichnungen. Darum sollten seine Gedanken auch nicht am Stück konsumiert werden, das führt leicht dazu, dass ein gewisser Überdruss beim Lesen aufkommt. Vielmehr ist "Das erste Jahr" ein Buch, das immer wieder einmal zur Hand genommen werden soll und Durs Grünbeins kluge Notizen können als wunderbare Gedanken-Anstöße gelesen werden - dann sind sie ein richtiger Gewinn. © manuela haselberger


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  Durs Grünbein -   Das erste Jahr
  Berliner Aufzeichnungen
  © 2001, Frankfurt, Suhrkamp Verlag, 328 S. / 20,35 €


Fortsetzung des Lesezitats ...

Im Jahr 2000, prophezeite der Dichter Ezra Pound, wird es keine Lyrik mehr geben.

Here is my voice and it says "Hi!".
Hi, but my throat is dry.
A silent elegy just saves a cry.

Jetzt ist das alles wieder da. Das Gedächtnis meldet sich wie ein diensthabender Wachmann, der nur eben eingeschlafen war, und nun reibt er sich verstohlen die Augen und bemerkt mit einem kurzen Blick auf den Kalender, daß ein ganzes Jahrzehnt vergangen ist. Die neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, das war die Dekade der großen Umwälzungen in Europa, die den Untergang des Heiligen Sozialistischen Reiches Deutscher Nation sowie schließlich den des ganzen Byzantinisch-Sowjetischen Machtblocks brachte. Es war das Jahrzehnt der Vereinigungen und der Versöhnungen, aber auch des Gemetzels auf dem Balkan, in Ruanda und in Tschetschenien, Inkubationsphase und Probedurchlauf kommender Bürgerkriege in den zerbrechenden Imperien von gestern. Es war eine euphorische, eine mörderische und eine melancholische Zeit. Plötzlich fand sich der Kommunismus unterm Zeichen des Saturn. Durch die Ruinen der proletarischen Industriereviere streifte zum letzten Mal das Gespenst, das Karl Marx so freudig willkommen geheißen hatte. Nun sah es alt aus und grau und verkümmert, und es gehörte viel Phantasie dazu, aus seinem Keuchhusten noch einmal die Internationale herauszuhören. Junge dynamische Funktionäre, die letzten Sprößlinge der alten Nomenklatura, traten vor die Kameras der Welt und rezitierten den Epilog zu einer der großen Menschheits-Ideen, die in der Wirklichkeit gründlich gescheitert war. Jetzt ist das alles wieder da...

2. Januar
Ja, es ist immer noch nachchristliche Zeit. Ein neues Jahr hat begonnen, sagt man sich morgens im Bad. Ein neues Jahrhundert, posaunen die Zeitungen, und die Historiker schweigen. Ein neues Jahrtausend, brummt mürrisch der Altphilologe. Na wenn schon, könnte der Archäologe erwidern. Doch der zieht es vor, sich anderswo in den Staub zu knien.

Erstaunlicherweise findet sich nach der großen Silvesterfeier alles am alten Platz. Kein Zahnputzbecher hat sich über Nacht heimlich von selbst verrückt, die Spiegel sind von denselben Wasserflecken wie gestern gesprenkelt. Nur der Lilienstrauß in der gläsernen Vase an der Wand ist um einen Tag welker geworden, und man sieht es ihm an. Die ersten Blütenblätter liegen schon auf den Fliesen. Doch das Unbehagen der letzten Wochen läßt lange nicht nach. Irgendeine Kraft, wie gewöhnlich namenlos, sorgt dafür, daß sich nach und nach alles verändert, schleichend, aber unausweichlich: nichts bleibt, wie es war. Ein Blick in den Badzimmerspiegel genügt, und man hat die Ursache gefunden. S. 13-14

Draußen das grelle Sonnenlicht und drinnen, kaum trat man nach zweitausend Jahren dort ein, empfing einen die dumpfe Atmosphäre von Schweineställen. Wie Vieh wurden die Liebesdienerinnen in den fensterlosen Gelassen gehalten. Dicht neben den Koben lag die Latrine. Bei Tag und Nacht drang der Gestank und das Lustgeschrei auf die Straße, wie aus den Garküchen der Speisedunst. Am Eingang des Lupanars machte ein masturbierender Priapus Reklame für die dort angebotenen Dienste. Unvergeßlich blieb das Bewegungsbild zweier riesiger Schwänze. Es war die direkteste und brutalste Form der Anmache, vergleichbar den Pornomagazinen, in denen Models im Schneidersitz dem Betrachter ihre weit auseinandergezogenen Schamlippen entgegenhielten.

Welche Einsicht nimmt man von einem solchen Ort mit nach Hause? Was läßt sich lernen aus dem Untergang und der Auferstehung Pompejis? Zumindest dies: Macht, was ihr wollt, vergnügt euch, betrügt einander, freßt, hurt und studiert, treibt Glücksspiel und Handel, betet und intrigiert, doch hinterlaßt, um Gottes Willen, hinterläßt wenigstens Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden. Tut etwas für die Nachwelt, verewigt euch, egal ob in Meisterwerken oder kitschigen Bildern. Fügt dem großen Anfangsmythos ein paar originelle Darstellungen hinzu. In diesem Sinne sind die geschwätzigen Amouretten in den Wandnischen bemerkenswert, die Comics auf dem rissigen Mauerwerk ebenso wie die Fresken in der noblen Mysterien-Villa. Alles zusammen erst bildet den Kosmos einer verschwundenen Metropole: die Kritzeleien im Lupanar ebenso wie in den Villen die Illusionstapeten im Vierten Stil, die luxuriösen Bodenmosaike in den Stadtpalästen und Thermen genauso wie die Graifitis an den Mauern entlang der Via dell' Abbondanza und in den Gartenanlagen der raffinierte Blumen- und Statuenschmuck. Das war es, was in Erinnerung an Pompeji mir noch jedesmal durch den Kopf ging. Eines Tages werde ich dorthin zurückkehren, an Erfahrungen reicher, gelassener auch. Dem Ende ein ganzes Stück näher, will ich all das noch einmal sehen, vielleicht dann mit anderen Augen.S. 41

Lesezitate nach Durs Grünbein - Das erste Jahr










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33 Epitaphe
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Dichtung zwischen Großstadt und Großhirn .
Annäherung an das lyrische Werk Durs Grünbeins


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© 2001


© 9.12.2001 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de