Eine Minute vor der Explosion lag tiefer Friede über dem Stadtplatz von Sainte-Cécile. Der Abend war warm, und eine windlose Luftschicht hatte sich wie eine Decke über den Ort gelegt. Die Kirchenglocke läutete träge und rief ohne große Begeisterung die Gläubigen zum Gottesdienst.
Für Felicity Clairet klang es wie ein Countdown.
Der Platz wurde beherrscht von dem Schloss aus dem sieb-zehnten Jahrhundert, einer kleinen Versailles-Kopie mit einem großen vorgebauten Portal und Seitenflügeln, die im Neunzig-Grad-Winkel abknickten und sich nach hinten verjüngten. Über dem Wohntrakt aus Erdgeschoss und erstem Stock wölbte sich ein hohes Dach mit Bogenfenstern in den Erkern.
Felicity; die immer nur flick genannt wurde, bebte Frankreich. Die eleganten Häuser gefielen ihr ebenso wie das milde Klima, die ausgedehnten Mahlzeiten und die gebildeten, kultivierten Menschen. Sie liebte die französische Malerei, die französische Literatur und die schicke französische Mode. Besucher fanden die Franzosen nicht selten unfreundlich, doch Flick, die seit ihrem sechsten Lebensjahr die Landessprache beherrschte, ging überall als Einheimische durch.
Es erbitterte sie, dass das alte, ihr so vertraute Frankreich nicht mehr existierte. Für ausgedehnte Mahlzeiten gab es nicht mehr genug Lebensmittel, die Gemälde waren von den Nazis gestohlen worden, und schöne Kleider trugen nur noch Huren. Flick selber hatte sich dem Stil der Zeit angepasst und trug ein unförmiges Gewand, dessen Farben durchs viele Waschen längst ausgebleicht waren. Von ganzem Herzen sehnte sie den Tag herbei, an dem das wahre Frankreich wieder erstehen würde, und wenn sie und einige Gleichgesinnte ihren Auftrag erfüllten, dann war dieser Tag vielleicht gar nicht mehr so fern.
Ob sie selbst ihn aber noch erleben würde, das stand in den Sternen. Es war nicht einmal sicher, dass sie die nächsten Minuten überlebte. Felicity war kein Mensch, der sich fatalistisch in sein Schicksal ergab - sie wollte leben! Hunderterlei Dinge hatte sie vor, wenn dieser Krieg endlich zu Ende ging. Sie wollte ihre Doktorarbeit abschließen, ein Kind bekommen, eine Reise nach New York machen, sich einen eigenen Sportwagen leisten und am Strand von Cannes Champagner trinken. Doch wenn sie schon sterben musste, dann gab sie sich auch damit zufrieden, ihre letzten Augenblicke auf einem vom Sonnenlicht überfluteten Platz zu verbringen, vor sich ein wunderschönes altes Gebäude - und in ihren Ohren den sanften, singenden Klang der französischen Sprache.
Das Schloss war einst als Wohnstatt für die Provinz-Aristokratie errichtet worden, doch hatte der letzte Comte de Sainte-Cécile 1793 seinen Kopf unter der Guillotine verloren. Und da es im Weinland, im Herzen der Champagne, lag, waren die Ziergärten längst in Weingärten umgewandelt worden. Inzwischen war im Château eine wichtige Fernmeldezentrale untergebracht, da der zuständige Minister aus Sainte-Cécile stammte.
Als die Deutschen gekommen waren, hatten sie die Zentrale erweitert, um eine Verbindung zwischen dem französischen Fernmeldesystem und der neu eingerichteten Telegrafenleitung nach Deutschland zu schaffen. Außerdem hatten sie das regionale Hauptquartier der Gestapo im Schloss eingerichtet - im Erdgeschoss und im ersten Stock lagen die Büros, im Keller die Zellen für Gefangene.
Vor vier Wochen erst hatten die Alliierten das Schloss bombardiert. Gezielte Bombenangriffe dieser Art waren etwas Neues. Die schweren viermotorigen Lancester-Bomber und die Fliegenden Festungen, die Nacht für Nacht über Europa
hinwegdröhnten, waren nicht eben sehr präzise - manchmal verfehlten sie sogar eine komplette Stadt. Ganz anders dagegen die jüngste Jagdbombergeneration, die Lightnings und Thunderbolts. Sie flogen bei Tageslicht an und attackierten kleinere, ausgewählte Ziele - eine Brücke, einen Bahnhof oder dergleichen. Deshalb bestand der Westflügel des Schlosses nur noch aus einem Haufen unregelmäßig behauener roter Ziegel aus dem 17. Jahrhundert und weißer Quadersteine.
Dennoch hatte sich der Angriff als Fehlschlag erwiesen, denn die Deutschen hatten die Schaden binnen kürzester Zeit reparieren können. Die Telefonvermittlung war nur so lange ausgefallen, bis die neuen Anlagen installiert waren. Die automatischen Verbindungen und die für Ferngespräche notwendigen Verstärker waren im Keller untergebracht, und der war nahezu unbeschädigt geblieben.
Und deshalb war Flick gekommen.
Das Schloss lag auf der Nordseite des Platzes und war mit einer hohen Mauer aus Steinpfeilern und schmiedeeisernen Gittern umgeben, die von uniformierten Posten bewacht wurde. Auf der Ostseite des Platzes stand eine kleine mittelalterliche Kirche, deren uralte Holztüren geöffnet waren, um die Sommerluft und die allmählich eintrudelnde Gemeinde einzulassen. Der Kirche gegenüber, auf der Westseite des Platzes, befand sich das Rathaus; dort regierte ein ultrakonservativer Bürgermeister, dem man nur selten einmal eine Meinungsverschiedenheit mit den Nazi-Besatzern nachsagen konnte. Den südlichen Abschluss des Platzes bildete eine Ladenzeile mit einem Straßencafé, dem Café des Sports. Dort saß Flick im Freien und wartete auf den letzten Glockenschlag. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Glas Wein aus der Region, schlank und leicht, wie er für die Gegend typisch war. Sie hatte noch nicht einmal daran genippt.
Felicity Clairet war Offizier der britischen Armee im Range eines Majors. Offiziell gehörte sie zur First Aid Nursing Yeomanry, einer ausschließlich aus Frauen bestehenden Sanitätseinheit, die geradezu zwangsläufig die FANYs genannt wurden.
Aber das war nur Flicks Tarnung. In Wirklichkeit arbeitete sie flir eine geheime Organisation, die so genannte Special Operations Executive (SOE), die für Sabotageaktionen hinter den feindlichen Linien zuständig war. Mit ihren achtundzwanzig Jahren gehörte Flick bereits zu den dienstältesten Agentinnen, und sie spürte nicht zum ersten Mal die Nähe des Todes. Doch obwohl sie längst gelernt hatte, mit diesem Gefühl zu leben und mit ihren Ängsten umzugehen, war ihr beim Anblick der Stahlhelme und großkalibrigen Waffen der Wachtposten vor dem Schloss, als lege sich eine eiskalte Hand auf ihr Herz.
Noch vor drei Jahren war es ihr höchster Ehrgeiz gewesen, einmal als Professorin für französische Literatur an einer britischen Universität zu unterrichten. Sie wollte ihren Studenten die Kraft eines Victor Hugo, den Esprit eines Gustave Flaubert, die Leidenschaft eines Emile Zola nahe bringen. Doch dann hatte sie einen Job im Kriegsministerium angenommen und Dokumente aus dem Französischen übersetzt - bis sie eines Tages zu einem mysteriösen Gespräch in ein Hotelzimmer bestellt und gefragt worden war, ob sie bereit sei, einen gefährlichen Auftrag zu übernehmen.
Ohne viel darüber nachzudenken, hatte sie zugesagt. Es herrschte Krieg, und all ihre männlichen Freunde und Kommilitonen aus Oxford riskierten Tag für Tag ihr Leben - warum sollte sie da abseits stehen? Zwei Tage nach Weihnachten ,94' hatte sie mit der Ausbildung bei der SOE begonnen.
Sechs Monate später war sie Kurier und übermittelte Botschaften vom Hauptquartier der SOE - 64 Baker Street, London - an verschiedene Résistance-Gruppen im besetzten Frankreich. Funkgeräte waren in jenen Tagen noch selten, und Leute, die damit umgehen konnten, noch seltener. Felicity wurde wiederholt mit dem Fallschirm über Frankreich abgesetzt, mischte sich mit ihren falschen Papieren unters Volk, nahm Kontakt zur Résistance auf, übermittelte Befehle, notierte Antworten, Beschwerden und Wünsche nach Waffen und Munition. Am Ende ihrer Mission wurde sie jeweils von einem Kleinflugzeug - meistens einer dreisitzigen Westland Lysander - abgeholt, das
auf einem fünfhundert Meter langen Grasstreifen starten und landen konnte.
Der Kuriertätigkeit waren anspruchsvollere Aufgaben gefolgt: Inzwischen war sie mit der Planung und Ausführung von Sabotageakten betraut. Die meisten SOE-Mitarbeiter waren Offiziere, und in der Theorie ging man davon aus, dass die jeweiligen örtlichen Résistance-Gruppen ihre "Untergebenen" waren. In der Praxis jedoch bewegte sich die Résistance außerhalb militärischer Befehlsstrukturen, und jeder Agent musste sich erst einmal die Kooperationsbereitschaft der Gruppen verdienen, indem er Härte, Sachkenntnis und Autorität bewies.
Die Arbeit war gefährlich. Flick hatte ihre Ausbildung gemeinsam mit sechs Männern und drei Frauen absolviert -jetzt, zwei Jahre später, war sie die Letzte, die noch im Einsatz war. Von zweien wusste man, dass sie tot waren: Einen hatte die Milice, die verhasste französische Sicherheitspolizei, erschossen; der andere war umgekommen, weil sein Fallschirm sich nicht geöffnet hatte. Die anderen sechs waren nacli ihrer Gefangennahme verhört und gefoltert worden und schließlich in irgendwelchen Lagern in Deutschland verschwunden. Flick hatte überlebt, weil sie skrupellos, reaktionsschnell und bis an die Grenze zum Verfolgungswahn auf Sicherheit bedacht war.
Neben Felicity saß Michel - ihr Ehemann und Anführer einer Résistance-Zelle mit dem Decknamen Bollinger, die in der fünfzehn Kilometer entfernten Kathedralenstadt Reims beheimatet war. Obwohl es auch für Michel in wenigen Minuten um Leben und Tod gehen würde, hatte er sich lässig in seinem Stuhl zurückgelehnt, den rechten Knöchel aufs linke Knie gelegt, und in der Hand hielt er ein Glas mit blassem, verwässertem Kriegsbier.
Felicity war Studentin an der Sorbonne gewesen und saß gerade an ihrer Dissertation über die Moral in den Werken Molieres - eine Arbeit, die sie bei Kriegsausbruch unterbrach -, als Michels unbekümmertes Lächeln ihr Herz gewonnen hatte. Dem jungen, immer etwas zerzaust wirkenden Philosophiestundenten … S. 9-13
Lesezitate nach Ken Follett - Die Leopardin