Eine Reihe von Tagen, über die es wenig zu berichten gibt, erleichterte mir damals meine Tätigkeit im Krankenhaus. Und gleichwohl erinnere ich mich an diese Zeit mit einem Gefühl von Wehmut- und auch einer gewissen Eifersucht. Es gab eine Übereinstimmung zwischen Kunsang und Atan, ein besonderes Verstehen zwischen einem Kind und einem Erwachsenen, der schon lange aufgehört hatte, Kind zu sein. Und die wenigen Male, als ich zusah, wie Kunsang reiten lernte, spürte ich diese Gefühle sehr deutlich. Sie mochte es nicht, wenn ich dabei war. Anfangs war sie gehemmt, wohl auch kühl; erst allmählich gelang es ihr meine Anwesenheit zu vergessen. Dann lockerte sich ihre Haltung, und ihre Bewegungen wurden geschickt.
Kunsangs schmales, sonnengebräuntes Gesicht zeigte jene leuchtende Begeisterung, die ihren ganz persönlichen Zauber ausmachte. Sie saß gut zu Pferd; das Tier schien ihren Signalen zu gehorchen, ebenso wie es Atans Befehle vernahm. Kunsangs Blick blieb ernst, aber es war der subtile, aufmerksame Ernst eines Menschen, der eine Einsicht gewinnt, die außerhalb des puren Begreifens liegt. Wahrscheinlich würde das Leben fur sie schwieriger werden, als ich es mir anfangs vor-gestellt hatte. Wenn ich sie mit Atan reiten sah, überkam mich die Freude über etwas vergänglich Schönes, wie der erste duftige Hauch im Frühling schon die Schwermut des reifenden Sommers in sich trägt. Ich misstraute meinen Sehnsüchten, denn auch in der Liebe ist kaum etwas von Dauer. Atan war geblieben, weil er ein Versprechen gegeben hatte. Und was dann? Du darfst dir nichts vormachen, du Närrin. Nicht jeder ist für das Dauerhafte geschaffen. Er wollte nach Tibet zurück; wir hatten darüber gesprochen, und er hatte es ohne Umschweife zugegeben. S. 58
Ich nahm seine braune Hand mit den schlanken Fingern, drückte sie an meine Wange. Unter meinen Händen fühlte er sich warm an, doch sein Blick war leer, als hielte ein Traum ihn fest. Es gab so viele Worte, die wir nicht sagen konnten. Über Kunsang sprachen wir nicht mehr.
Und so, seine Hände auf meiner nackten Haut, das vertraute Gewicht seines Körpers auf meinem, befiel mich die Vorstellung, dass es vielleicht die falsche Liebe war. Dass die Vorstellung, zwei Menschen aus entgegengesetzten Welten könnten in Harmonie leben, nicht den Tatsachen entsprach. Was dachte er darüber? Ich schwieg, und er schwieg auch. Mit einem Mal sah ich ihn dort, wo er hingehörte. Wo es einen anderen Himmel gab und eine andere Sonne. Wo sein Blick an den Gipfeln hing, wo der Wind seinem Pferd die Beine unter dem Leib wegriss, wo sein Pfeil, einmal abgeschossen, die Sterne traf, wo es nach frischem Frühlingsgras und Yakmist roch. Wo er ein Pferd besteigen und eine Frau lieben konnte, wann immer er wollte. Das war sein Leben; für ein anderes war er nicht geschaffen. Ich bin dumm, dass ich ihn liebe, dachte ich.
Ich hielt die Augen geschlossen, als ich ihn streichelte - ich wollte meine Träume bewahren. Aber unter meinen Händen spürte ich keine glatte Haut, ich spürte nur Narben. So viele Narben! Jede Narbe erzählte eine Geschichte; es war die Geschichte Tibets, einer misshandelten, geopferten Welt. Doch wem genügt schon eine Geschichte? Tibet war für mich der Ort des Kummers, ein gespenstischer Ort, wo ich die seltsame Seligkeit der Kindheit suchte, auf ewig verschwunden und unerreichbar Ich drückte meine Lippen an Atans Schulter. Seine Glieder waren warm, ermüdet von der Liebe. Ich spürte tief in mir den warmen Strom, der von ihm ausging, den intimen Pulsschlag des Lebens. Versunken lauschte mein Ohr seinen heftigen, sich nur langsam beruhigenden Herzschlägen.
"Ich werde immer hoffen", flüsterte ich, "dass ich dich wiedersehe. Eines Tages, irgendwann. Sonst würde es für mich ganz unmöglich, dich zu verlassen."
Er rückte ein wenig von mir ab, fiel zurück, wie ein vom Körper losgelöster Schatten. Mit dunkel glitzernden Pupillen, die mir nicht nur ins Gesicht, sondern wirklich ganz tief in die Augen blickten.
"Ich werde auch hoffen", sagte er kehlig. "Und ich glaube, nicht umsonst. Ich glaube es tatsächlich. Das Schicksal hat ein langes Gedächtnis . . . " S. 69
Lesezitate nach Frederica de Cesco - Die Tochter der Tibeterin