Frederica de Cesco - Die Tochter der Tibeterin (Buchtipp/Rezension/lesen)
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Prolog

Sonntag morgen, halb elf. Basel erstarrte im eisigen Sprühregen; es war März und noch kalt. Über dem gotischen Münster wanderten Nebel. Der Regen verdunkelte den roten Sandstein, und beide Türme ragten hoch und kräftig empor wie Arme zum Gebet. Die Menge wartete; ein Wirrwarr von Stimmen erfüllte den Vorplatz, die aufgespannten Schirme leuchteten bunt und fröhlich. Ich war mit meiner Mutter aus Zürich gekommen, Tenzin hatte das organisiert und uns die Einladungen besorgt. Amlas Augen strahlten in verhaltener Freude. Auf ihrem straff geflochtenen Haar glänzten Regentropfen. Sie trug mit feinem Stolz die tibetische Tracht; ihre hohe Gestalt, ihr ovales, kupferbraunes Antlitz zogen manchen Blick auf sich. Die Menschen waren sehr zahlreich an diesem regnerischen Morgen, sie standen gruppenweise, und es kamen immer noch mehr. Ihre Gesichter zeigten eine Mischung aus Neugierde und Erwartung, angeregt und glücklich. Ein Ausdruck, der mir gefiel. Und mitten unter dem Regen empfand ich auf einmal eine wohltuende Vertraulichkeit im Niederplätschern der Tropfen, ein Befreundetsein mit der Lebensluft, die mich umfing, auch wenn sie kühl war. Die Gegenwart der schützenden Geister wurde mir ebenso bewusst wie im weiten tibetischen Raum. Unruhige, geniale Geister waren es, die hier wirkten, und die alten Steine beherbergten Visionen. Schon möglich, dass die Menschen hierzulande mühevoller zum inneren Frieden gelangten als bei uns, dass ihr Dasein sich stärker in alltäglicher Hektik erschöpfte. Und doch wussten auch diese Menschen mit festem, klarem Instinkt, wonach sie strebten und was gut für sie war. S. 9


Lesezitat nach Frederica de Cesco - Die Tochter der Tibeterin


Tibet heute
Frederica de Cesco - Die Tochter der Tibeterin

In einem großen, farbigen Panorama, breitet Federica de Cesco in ihrem Roman "Die Tochter der Tibeterin" die Geschichte Tibets aus.

In ihrem ersten Abenteuer ("Die Tibeterin") hat die tibetische Ärztin Tara, die seit dreißig Jahren in der Schweiz lebt, - sie flüchtete mit ihrer Familie Hals über Kopf, als China Tibet besetzte, - das Kind ihrer verstorbenen Zwillingsschwester, das Mädchen Kunsang, auf einer gefährlichen Odyssee zu sich in die Schweiz geholt.

Doch Kunsang, mittlerweile siebzehn Jahre alt, kann mit dem Leben im Westen nichts anfangen. Die Schule interessiert sie kaum, sie experimentiert mit Drogen, wird magersüchtig und zieht sich immer mehr in ihr Schneckenhaus zurück. Einzig mit ihrem tibetischen Großvater, der bereits sterbenskrank ist, führt sie stundenlange Gespräche. Von ihm will sie alles über die ferne Heimat ihrer verstorbenen Mutter erfahren. Vor allem die alten, traditionellen Lieder haben es ihr angetan.

Nach dem Tod des alten Mannes reist Kunsang auf eigene Faust nach Lhasa. Tara und ihre Mutter machen sich große Sorgen, als Post von ihr eintrifft. Sie schreibt, dass sie erkrankt ist, doch will sie nicht zurückkehren. In großer Sorge reist Tara ihr nach.

Dieser Teil des Buches, in dem Federica de Cesco mit Taras Augen, die chinesischen Besatzer beschreibt, denen es trotz Gewalt und grausamer Folter nicht gelingt, die Tibeter und ihren Glauben auszurotten, gehört zum Interessantesten des Romans. Im Breitbandformat schildert sie die religiösen Feste sowie die Mythen des Landes, die Andacht der Mönche im Kloster und das Leben der Nomaden, die sich nicht von China einnehmen lassen.

Mit der jungen Frau Kunsang, die sich sehr zu den tibetischen Traditionen hingezogen fühlt und Tara, die im westlichen, intellektuellen Denken verhaftet ist, treffen zwei hochexplosive, starke weibliche Gegenpole aufeinander. Und wie kann es anders sein, als Puffer zwischen ihnen, steht ein Mann, den sie beide auf ihre eigene Art lieben: Atan, der Nomade und Fluchthelfer.

"Die Tochter der Tibeterin" ist in erster Linie ein gut geschriebener Unterhaltungsroman, stilistisch nicht immer brillant, doch der Plot ist handwerklich solide gearbeitet. Aber damit ist es nicht getan. Besonders lesenswert und zu einer eindringlichen Lektüre machen das Buch die vielfältigen Informationen über das unterdrückte Tibet heute. © manuela haselberger


  SHOPPING   - gebundenes Buch / broschiert


  Frederica de Cesco - Die Tochter der Tibeterin
  © 2001, München, Marion von Schröder Verlag, 450 S., 21.95 € (gebunden)

  © 2003, München, Heyne, 450 S., 10 € (broschiert)



Fortsetzung des Lesezitats ...

Eine Reihe von Tagen, über die es wenig zu berichten gibt, erleichterte mir damals meine Tätigkeit im Krankenhaus. Und gleichwohl erinnere ich mich an diese Zeit mit einem Gefühl von Wehmut- und auch einer gewissen Eifersucht. Es gab eine Übereinstimmung zwischen Kunsang und Atan, ein besonderes Verstehen zwischen einem Kind und einem Erwachsenen, der schon lange aufgehört hatte, Kind zu sein. Und die wenigen Male, als ich zusah, wie Kunsang reiten lernte, spürte ich diese Gefühle sehr deutlich. Sie mochte es nicht, wenn ich dabei war. Anfangs war sie gehemmt, wohl auch kühl; erst allmählich gelang es ihr meine Anwesenheit zu vergessen. Dann lockerte sich ihre Haltung, und ihre Bewegungen wurden geschickt.

Kunsangs schmales, sonnengebräuntes Gesicht zeigte jene leuchtende Begeisterung, die ihren ganz persönlichen Zauber ausmachte. Sie saß gut zu Pferd; das Tier schien ihren Signalen zu gehorchen, ebenso wie es Atans Befehle vernahm. Kunsangs Blick blieb ernst, aber es war der subtile, aufmerksame Ernst eines Menschen, der eine Einsicht gewinnt, die außerhalb des puren Begreifens liegt. Wahrscheinlich würde das Leben fur sie schwieriger werden, als ich es mir anfangs vor-gestellt hatte. Wenn ich sie mit Atan reiten sah, überkam mich die Freude über etwas vergänglich Schönes, wie der erste duftige Hauch im Frühling schon die Schwermut des reifenden Sommers in sich trägt. Ich misstraute meinen Sehnsüchten, denn auch in der Liebe ist kaum etwas von Dauer. Atan war geblieben, weil er ein Versprechen gegeben hatte. Und was dann? Du darfst dir nichts vormachen, du Närrin. Nicht jeder ist für das Dauerhafte geschaffen. Er wollte nach Tibet zurück; wir hatten darüber gesprochen, und er hatte es ohne Umschweife zugegeben. S. 58

Ich nahm seine braune Hand mit den schlanken Fingern, drückte sie an meine Wange. Unter meinen Händen fühlte er sich warm an, doch sein Blick war leer, als hielte ein Traum ihn fest. Es gab so viele Worte, die wir nicht sagen konnten. Über Kunsang sprachen wir nicht mehr.

Und so, seine Hände auf meiner nackten Haut, das vertraute Gewicht seines Körpers auf meinem, befiel mich die Vorstellung, dass es vielleicht die falsche Liebe war. Dass die Vorstellung, zwei Menschen aus entgegengesetzten Welten könnten in Harmonie leben, nicht den Tatsachen entsprach. Was dachte er darüber? Ich schwieg, und er schwieg auch. Mit einem Mal sah ich ihn dort, wo er hingehörte. Wo es einen anderen Himmel gab und eine andere Sonne. Wo sein Blick an den Gipfeln hing, wo der Wind seinem Pferd die Beine unter dem Leib wegriss, wo sein Pfeil, einmal abgeschossen, die Sterne traf, wo es nach frischem Frühlingsgras und Yakmist roch. Wo er ein Pferd besteigen und eine Frau lieben konnte, wann immer er wollte. Das war sein Leben; für ein anderes war er nicht geschaffen. Ich bin dumm, dass ich ihn liebe, dachte ich.

Ich hielt die Augen geschlossen, als ich ihn streichelte - ich wollte meine Träume bewahren. Aber unter meinen Händen spürte ich keine glatte Haut, ich spürte nur Narben. So viele Narben! Jede Narbe erzählte eine Geschichte; es war die Geschichte Tibets, einer misshandelten, geopferten Welt. Doch wem genügt schon eine Geschichte? Tibet war für mich der Ort des Kummers, ein gespenstischer Ort, wo ich die seltsame Seligkeit der Kindheit suchte, auf ewig verschwunden und unerreichbar Ich drückte meine Lippen an Atans Schulter. Seine Glieder waren warm, ermüdet von der Liebe. Ich spürte tief in mir den warmen Strom, der von ihm ausging, den intimen Pulsschlag des Lebens. Versunken lauschte mein Ohr seinen heftigen, sich nur langsam beruhigenden Herzschlägen.

"Ich werde immer hoffen", flüsterte ich, "dass ich dich wiedersehe. Eines Tages, irgendwann. Sonst würde es für mich ganz unmöglich, dich zu verlassen."

Er rückte ein wenig von mir ab, fiel zurück, wie ein vom Körper losgelöster Schatten. Mit dunkel glitzernden Pupillen, die mir nicht nur ins Gesicht, sondern wirklich ganz tief in die Augen blickten.
"Ich werde auch hoffen", sagte er kehlig. "Und ich glaube, nicht umsonst. Ich glaube es tatsächlich. Das Schicksal hat ein langes Gedächtnis . . . " S. 69

Lesezitate nach Frederica de Cesco - Die Tochter der Tibeterin












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Titel von
Frederica de Cesco
 Taschenbuch



Die Tibeterin

© 2000


© 27.12.2001 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de